Die Lilie im Tal (German Edition)
Comtesse zu uns und rückte ihren Stickrahmen an unsern Tisch.
»Das ist für Sie«, sagte sie, die Stickerei aufrollend, »aber seit drei Monaten schleppt die Arbeit. Zwischen dieser roten Nelke und dieser Rose liegt die Leidenszeit meines Kindes.« – »Lassen Sie das gut sein«, sagte Monsieur de Mortsauf. »Sprechen wir nicht davon! Sechs-fünf, Monsieur Königsbote!«
Beim Zubettgehen verhielt ich mich so still wie möglich, um sie in ihrem Zimmer auf und ab gehen zu hören. Wenn es aber drunten still und klar blieb, wurde ich von den wildesten Phantasien, von unerträglichen Begierden durchwühlt.
›Warum sollte sie nicht mein sein?‹ fragte ich mich. ›Vielleicht quält auch sie sich in diesem brandenden Sinnentaumel.‹
Um ein Uhr schlich ich mich die Treppe hinunter und kam geräuschlos an ihre Tür; ich legte mich an ihrer Schwelle nieder, und das Ohr gegen die Türspalte gepreßt, hörte ich ihren sanften, gleichmäßigen Kinderatem. Als ich vor Kälte zitterte, ging ich wieder hinauf, legte mich ins Bett und schlief ruhig bis zum Morgen ... Ich weiß nicht, welcher geheimnisvollen Macht, welchem Drang in meiner Natur ich es zuschreiben soll, daß ich Freude darin finde, mich bis an den Rand des Abgrundes zu wagen, den Schlund des Übels zu ermessen, seine Tiefe zu befragen, seinen eisigen Atem zu fühlen – und mich dann erschüttert zurückzuziehen. Diese Nachtstunde, die ich an ihrer Schwelle verbrachte, vor Wut heulend, ohne daß sie am nächsten Tage hätte ahnen können, daß sie über meine Tränen und meine Küsse hinschritt, über ihre bald gefährdete, bald geachtete, bald verfluchte, bald angebetene Tugend. Diese Stunde, die vielen töricht erscheinen mag, gab mir eine Ahnung von dem unerklärlichen Gefühl, das Soldaten beseelt: manch einer hat mir erzählt, daß er sein Leben aufs Spiel gesetzt, sich vor die Batterie geworfen habe, um zu sehen, ob er dem Kugelregen entrinnen würde, ob er Glück hätte beim Reiten längs dem gefährlichen Abgrunde, Jean Bart gleich, der auf dem Pulverfaß rauchte. Tags darauf pflückte ich zwei Sträuße; der Comte bewunderte sie, er, den nichts auf diesem Gebiet zu rühren vermochte und auf den das Wort des Champcenetz zutraf: ›Er baut Luftkerker!‹
Ich verlebte einige Tage in Clochegourde und machte nur kurze Besuche in Frapesle, wo ich immerhin dreimal zu Abend aß. Die französische Armee besetzte Tours. Obwohl ich offenbar für Madame de Mortsauf Leben und Gesundheit bedeutete, beschwor sie mich, nach Châteauroux zu gehen, um möglichst schnell über Issoudun und Orleans nach Paris zu gelangen. Ich wollte nicht. Sie befahl und sagte, der Hausgeist habe gesprochen; ich gehorchte. Unser Abschied war diesmal tränenreich. Sie fürchtete für mich die Verlockungen der Welt, in der ich leben würde. Mußte ich mich jetzt nicht ernstlich in den Wirbelsturm von Interessen, Leidenschaften und Vergnügungen stürzen, der Paris zu einem für jede keusche Liebe und für ein reines Gewissen gleich gefährlichen Meere macht? Ich versprach, ihr jeden Abend über die Ereignisse und Gedanken des Tages, selbst die geringfügigsten, zu berichten. Bei diesem Versprechen lehnte sie ihr müdes Haupt an meine Schulter und sagte: »Vergessen Sie nichts! Alles wird mich interessieren!«
Sie gab mir Briefe für den Duc und die Duchesse, die ich einen Tag nach meiner Ankunft aufsuchte.
»Sie treffen es günstig«, sagte mir der Duc. »Essen Sie heute bei uns zu Abend, kommen Sie dann mit mir ins Schloß, und – Ihr Glück ist gemacht! Der König hat heute morgen an Sie gedacht und von Ihnen gesagt: ›Er ist jung, fähig und treu!‹ – und Seine Majestät bedauerte, nicht zu wissen, ob Sie lebendig oder tot seien und wohin der Zufall Sie verschlagen habe, nachdem Sie sich Ihres Auftrages so tadellos entledigt hätten.«
Am selben Abend noch wurde ich Berichterstatter im Staatsrat und hatte bei der Person Ludwigs XVIII. ein geheimes Amt, das erst mit seiner Regierungszeit erlöschen sollte, eine Vertrauensstelle ohne viel Glanz, aber ohne die Möglichkeit der Ungnade – die mich mit einem Schlage in den Mittelpunkt des Verwaltungswesens führte und die erste Stufe meiner Laufbahn wurde. Madame de Mortsauf hatte das Richtige vorausgesehen: ich schuldete ihr also alles: Macht und Reichtum, Glück und Wissen. Sie leitete mich und ermutigte mich, läuterte mein Herz und gab meinem Willen die feste Einheit, ohne welche Jugendkraft sich so leicht zersplittert.
Weitere Kostenlose Bücher