Die Lilie im Tal (German Edition)
Geist über mir, ihre Gedanken durchflogen die Weite und bildeten eine reine Atmosphäre um mich. Keine Frau vermochte mich zu fesseln. Der König hörte von meiner Zurückhaltung; in der Beziehung gehörte er zur Schule Ludwigs XV. und nannte mich ›Mademoiselle de Vandenesse‹. Aber mein untadeliges Verhalten gefiel ihm sehr. Ich bin davon überzeugt, daß die Geduld, die ich während meiner Kindheit und besonders in Clochegourde gelernt hatte, sehr dazu beitrug, mir die Gunst des Königs zu erwerben, der immer äußerst gütig zu mir war. Er machte sich wahrscheinlich ein Vergnügen daraus, meine Briefe zu lesen, denn er ließ sich nicht lange durch mein jungfräuliches Wesen täuschen. Eines Tages, während der Duc Hofdienst versah, schrieb ich gerade nach dem Diktat des Königs, der den Duc de Lenoncourt ansah und uns beiden einen verschmitzten Blick zuwarf.
»Nun, wie steht's? Will dieser verteufelte Mortsauf denn ewig leben?« sagte er mit seiner silbernen Stimme, der er nach Wunsch den Ton schneidender Satire geben konnte. »Es scheint!« antwortete der Duc. »Die Comtesse de Mortsauf ist ein Engel, den ich doch für mein Leben gern sehen möchte«, entgegnete der König; »aber wenn ich nichts dazu vermag, so wird mein Kanzler mehr Erfolg haben«, sagte er, sich mir zuwendend. »Sechs Monate stehen Ihnen zur Verfügung; ich bin entschlossen, Ihnen den jungen Mann zum Kollegen zu geben, von dem wir gestern sprachen. Viel Vergnügen in Clochegourde, mein lieber Cato!« – und lächelnd ließ er sich aus dem Zimmer hinausfahren.
Ich flog wie eine Schwalbe in die Touraine. Zum ersten Mal würde ich vor die Geliebte hintreten, nicht nur etwas weniger tölpelhaft, sondern als ein eleganter junger Mann, dessen Manieren durch die feinsten Salons gebildet waren, dessen Erziehung die anmutigsten Frauen vollendet hätten, der endlich den Preis seiner Leiden geerntet und die Erfahrung des schönsten Engels, dem der Himmel je ein Kind anvertraute, in die Tat umgesetzt hatte. Nicht wahr, Sie erinnern sich, wie ich während der drei Monate meines ersten Aufenthalts in Frapesle ausgesehen hatte? ...
Als ich zur Zeit meiner Vendée-Mission nach Clochegourde zurückkehrte, war ich wie ein Jäger gekleidet: ich trug eine grüne Weste mit weißroten Knöpfen, eine gestreifte Hose, Ledergamaschen und Schuhe. Der Marsch, die Gebüsche hatten mich so übel zugerichtet, daß mir der Comte Wäsche leihen mußte. Ein zweijähriger Aufenthalt in Paris, der Umgang mit dem König, der Einfluß des Reichtums und mein beendetes Wachstum hatten mich umgewandelt. Dazu kam mein junges Gesicht, das vom unaussprechlichen Friedensschein einer Seele durchstrahlt war, die mit der reinen Seele von Clochegourde magnetisch verbunden schien. Ich war selbstbewußt, ohne Anmaßung, war innerlich beglückt, mich trotz meiner Jugend schon auf dem Gipfel des politischen Lebens zu wissen; ich hatte das Bewußtsein, die heimliche Stütze, die uneingestandene Hoffnung der göttlichsten Frau zu sein, die es auf Erden gab. Vielleicht empfand ich eine Regung von Eitelkeit, als die Peitsche der Postillione auf der neuen Fahrstraße von Chinon nach Clochegourde knallte und als ein mir noch unbekanntes Tor in einer neugebauten Umfassungsmauer sich öffnete. Ich hatte meine Ankunft der Comtesse nicht gemeldet, um ihr eine Überraschung zu bereiten; ich hatte doppelt unrecht: zunächst überwältigte sie die Bestürzung einer lang ersehnten, aber unmöglichen Freude, die plötzlich eintritt; sodann bewies sie mir, daß alle berechneten Überraschungen geschmacklos seien.
Als Henriette den jungen Mann erblickte, den sie nur als Kind gekannt hatte, senkte sie ihren Blick mit tragisch langsamer Gebärde. Sie ließ mich ihre Hand ergreifen und küssen, ohne die tiefe seelische Freude, die mir sonst das leise Erzittern ihrer feinfühligen Natur verriet; und als sie mir ihr Gesicht wieder zuwandte, fand ich sie blaß aussehend.
»Das ist recht! Sie vergessen also Ihre alten Freunde nicht?« sagte Monsieur de Mortsauf, der weder verändert noch gealtert war.
Die beiden Kinder sprangen mir an den Hals. An der Tür sah ich die ernste Gestalt des Abbé de Dominis, des Erziehers Jacques'.
»Nein«, antwortete ich dem Comte. »Ich werde in Zukunft alljährlich sechs Monate Freiheit haben, die Ihnen gehören ... Was fehlt Ihnen denn?« fragte ich die Comtesse, und ich legte in Gegenwart aller meinen Arm um ihre Taille, um sie zu stützen. »Oh, lassen Sie mich!« Sie
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