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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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konnte, äußerte sie sich in fixen Ideen, die seelische Zerrüttung griff auf den Körper über. Er war sein eigener Arzt geworden; er wälzte medizinische Bücher, glaubte die Krankheiten, deren Beschreibung er las, zu haben und traf für seine Gesundheit unerhörte Vorsichtsmaßregeln, die immer wechselten, sie waren nicht vorauszusehen und infolgedessen nicht einzuhalten. Einmal wollte er keinen Lärm hören, und wenn die Comtesse um ihn her unbedingte Stille schuf, beklagte er sich, gewissermaßen lebendig begraben zu sein; er sagte, es sei doch noch ein großer Unterschied zwischen Geräuschlosigkeit und dem Todesschweigen eines Trappistenklosters. Manchmal legte er erkünstelte Gleichgültigkeit gegen alle Dinge dieser Welt an den Tag; dann atmete das ganze Haus auf, die Kinder spielten, die Haushaltsarbeiten gingen glatt und ungehindert vonstatten. Plötzlich rief er jammernd in den Lärm hinein: »Man will mich umbringen, meine Liebe! – Wenn es sich um Ihre Kinder handelte, würden Sie gewiß herausfinden, was ihnen fehlt!« sagte er zu seiner Frau und verschärfte die Ungerechtigkeit der Worte noch durch den bittern und schneidenden Ton, womit sie gesprochen wurden.
    Er zog sich hundertmal am Tage an und aus, beobachtete die leisesten Temperaturwechsel und tat nichts, ohne sein Barometer zu befragen. Trotz der mütterlichen Sorgfalt seiner Frau war keine Speise je nach seinem Geschmack. Er bildete sich ein, an einem kranken Magen zu leiden, und behauptete, seine Verdauungsschmerzen bereiteten ihm andauernd schlaflose Nächte. Bei alledem aß, trank, verdaute und schlief er so vorzüglich, daß der geschickteste Arzt über sein Befinden nur gestaunt hätte. Seine immer wechselnden Befehle verdrossen die Leute im Hause, die, wie alle Dienstboten, ihre alten Geleise gehen wollten und unfähig waren, sich ewig widersprechenden Forderungen anzupassen. Der Comte befahl zum Beispiel, alle Fenster offenzuhalten, weil frische Luft für seine Gesundheit nötig sei. Wenige Tage später wurde ihm die zu feuchte oder zu warme Luft unerträglich; dann zankte er, brach einen Streit vom Zaun und leugnete aus Rechthaberei seinen vorigen Befehl ab. Dieser Mangel an Gedächtnis oder an Ehrlichkeit verhalf ihm auch dann zum Sieg, wenn seine Frau ihn gegen sich selbst ausspielte. Das Leben in Clochegourde war so unerträglich geworden, daß der hochgelehrte Abbé de Dominis schließlich die Lösung tiefer Probleme anbahnte und sich hinter einer scheinbaren Geistesabwesenheit verschanzte. Die Comtesse konnte nicht mehr wie früher hoffen, daß seine Wutanfälle nicht außerhalb des Familienkreises bekannt würden. Schon waren die Dienstboten Zeugen heftiger Auftritte gewesen, wobei die grundlose Überreiztheit des Greises alle Grenzen überschritten hatte. Sie waren der Comtesse so treu ergeben, daß nichts in die Öffentlichkeit drang; aber sie mußte jeden Tag einen gewaltigen Ausbruch dieses Wahnsinns befürchten, den keine Rücksicht mehr zurückhielt. Ich erfuhr später schreckliche Einzelheiten vom Verhalten des Comte gegen seine Frau. Statt sie zu trösten, überschüttete er sie mit düstern Prophezeiungen und machte sie für künftiges Unheil verantwortlich, weil sie sich gegen die sinnlosen Heilmethoden sträubte, denen er seine Kinder unterwerfen wollte. Ging die Comtesse mit Jacques und Madeleine spazieren, so weissagte der Comte bei heiterstem Himmel ein Gewitter. Wenn die Ereignisse zufällig seine Voraussagen rechtfertigten, fühlte er sich in seiner Selbstliebe so geschmeichelt, daß ihn das Übelbefinden seiner Kinder nicht rührte. War eins von ihnen unwohl, so setzte der Comte seinen ganzen Verstand daran, den Grund des Leidens in der Verpflegungsart seiner Frau zu finden, die er in allen Einzelheiten bekrittelte, immer mit den mörderischen Worten schließend: »Wenn Ihre Kinder wieder krank werden, dann haben Sie es nicht anders gewollt!« Geradeso trieb er es in der Hausverwaltung. Er sah immer nur die schlimmste Seite der Dinge und machte sich bei jeder Gelegenheit zum ›Advokaten des Teufels‹, wie sein alter Kutscher sagte. Die Comtesse hatte für Jacques und Madeleine eine andere Essenszeit festgesetzt und sie damit vor den verheerenden Wirkungen der Krankheit des Comte geschützt; sie wollte allein der Blitzabnehmer für alle Gewitter sein. Madeleine und Jacques sahen ihren Vater selten. Wie alle Egoisten war er Meister im Selbstbetrug; nie wurde ihm klar, welches Übel er anrichtete. Im vertrauten

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