Die Lilith Verheißung: Thriller (German Edition)
die Härteprobe sein.« Sandmann hatte sich mit Jan und Regina in sein Dienstzimmer im zweiten Stock des Westflügels mit Kaffee und Zigaretten zurückgezogen und auf die immer größer werdende Zeltstadt hinabgeblickt.
»Die wenigsten Menschen haben zu Hause Nahrung für mehr als zwei, drei Tage. Dann werden sie aus ihren Wohnungen kommen müssen. Bis dahin müssen wir feste Verteilungsstationen errichtet haben. Diese Form der Pocken ist uns völlig fremd.«
Regina rieb sich ihre Armbeuge. Sie hatte wie Jan einen Schnelltest über sich ergehen lassen müssen und war sofort negativ getestet worden. Beide waren bei der großen Impfaktion Ende der 60er Jahre gegen Pocken geimpft worden. Wie viele ihrer Generation trugen sie das charakteristische Pockenmal am Oberarm. Jan vermutete, dass ihr Impfschutz von damals Ezechiels Viren abwehren konnte.
»Was ist denn anders?«, fragte Regina.
Sandmann zog an seiner Zigarette und blies langsam den Rauch aus. Er hatte mit Jan lange in der Notfallmedizin zusammengearbeitet, sich aber auf die Innere Medizin konzentriert. Jan war eher der Typ für schnelle Entscheidungen unter hohem Druck, während Sandmann die ruhige, nachhaltige Diagnose lag. Er war auch an der ethischen Dimension ihrer Arbeit interessiert, wollte ihre Grenzen ausloten. Ein Bereich, dem Jan wenig abgewinnen konnte – bis zum Tod seines eigenen Sohnes. Siehatten sich immer ergänzt, beide galten lange Zeit als die heimlichen Stars in der ohnehin von selbsternannten und wirklichen Koryphäen wimmelnden Uni-Klinik. Wer hier arbeitete, hatte es als Mediziner in den Olymp geschafft. Der kleine, untersetzte Sandmann wie auch Jan waren damit jedoch nie zufrieden gewesen.
»Also, das Variola-Virus entstammt der Gruppe der Orthopoxviren. Angeblich existiert das Virus nur noch in den USA und in Russland. Ansonsten galt es als ausgestorben. Aber natürlich haben Russen und vermutlich andere Nationen wie Israel und China mit Virenstämmen herumexperimentiert.«
»Natürlich immer nur, um ein Antiserum zu erhalten«, schob Jan sarkastisch ein.
Sandmann fuhr fort: »Das Virus kann in Abhängigkeit von Temperatur und Luftfeuchtigkeit in getrockneten Sekreten von Menschen über Jahre überleben. Die Inkubationszeit, also die Zeit von der Ansteckung bis zum Ausbruch der Krankheit, beträgt unseres bisherigen Wissens nach 12 bis 14 Tage. In dieser Zeit soll eine Impfung erfolgreich sein.«
Regina zuckte mit den Schultern. »Dann ist der Spuk doch bald vorbei. Ihr impft alle durch, und das Virus kippt aus den Latschen, weil es keinen Menschen mehr findet, den es anstecken kann.«
Sandmann lächelte bitter. »Das ist die erste Veränderung. Die Krankheit bricht nach unseren ersten Erkenntnissen innerhalb von 48 Stunden aus.«
Jan pfiff durch die Zähne. »Habt ihr noch andere Veränderungen bemerkt?«
Sandmann nickte. »Es gibt verschiedene Krankheitsformen der Pocken. Wir haben es ausschließlich mit den hämorrhagischen Verläufen zu tun, der schlimmsten Form der Pocken. Erst Fieber, Unwohlsein, Verhärtung der Muskeln, Erbrechen, Kreuzschmerzen und Schüttelfrost, wie bei einer Grippe. Dann aber binnen weniger Stunden Blutungen und innerhalb von 48 Stunden schon Exanthemausbreitung der Pusteln von Gesicht und Armen zentrifugal über Beine zum Rumpf. Es folgen Verwirrtheit,dauerhafter Husten, abdominelle Schmerzen, Furunkel und Abszesse in Rektum und Harnröhre. Am Ende stehen eine Kombination von Pneumonie und letztlich polytraumatischletale Erscheinungen, kurz Tod genannt. Seit heute Mittag haben wir hier im Osten der Stadt in zwei Krankenhäusern und einer ›Sammelstelle‹, wie der Krisenstab die Lager für die Infizierten noch nennt, 140 Tote! Sie sterben wie die Fliegen, und wir können nur zusehen. Es werden stündlich mehr. Das Impfmittel wird immer weiter verdünnt, die Wirkung lässt damit natürlich nach. Schon vor dem Ausbruch hat das zuständige Ministerium, um auf die gewünschte Zahl zu kommen, den Impfstoff verdünnen lassen. Man wollte die Bevölkerung beruhigen, ihr das Gefühl geben, es sei genügend Impfstoff vorhanden. Aber gleichzeitig wollte keiner die Kosten für die Herstellung und Lagerung übernehmen. Das rächt sich jetzt.«
Jan wollte wissen, wie sie nun im Klinikum vorgingen.
»Na ja, erst einmal steht eine symptomatische Therapie im Vordergrund. Wir haben keine Ahnung, ob die Virustatika helfen.«
»Wieso?«
»Normalerweise hemmen Virustatika die Vermehrung der Viren, das ist ihre
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