Die linke Hand Gottes
öffentlich zerfleischten, war etwas, was man sich nicht entgehen lassen durfte. Konnte man wissen, wann eine solche Gelegenheit wiederkommen würde?
Schon am frühen Morgen des Duelltages füllte sich der große Platz vor der Opera Rosso. Vor den Eingängen warteten die Neugierigen zu Tausenden. All jene, die keine Hoffnung mehr auf Einlass hatten, trieben sich zwischen den Buden und Verkaufsständen herum, die bei solchen Großveranstaltungen in Windeseile aufgebaut wurden. An jeder Ecke standen Büttel und Gendarmen, die ein wachsames Auge auf Diebe und Schläger hielten, denn wie schnell konnte sich die Enttäuschung in Raufhändel entladen. Und selbstverständlich durften alle Macker und Schlägerbanden nicht fehlen – die Glatzen mit ihren gold und rot gestreiften ärmellosen Jacken und silberfarbenen Stiefeln, die Schlagdrauf-Clique mit weißen Hosenträgern und schwarzen steifen Hüten, die Scholaren mit Melone, Monokel und dünnem Oberlippenbart. Auch die Mädchen waren zahlreich vertreten, die kahl geschorenen Lollarden in langen Mänteln und bis übers Knie reichenden Stiefeln, die Conchitas mit roten, wie Amors Bogen gemalten Lippen, eng anliegenden roten Leibchen und tiefschwarzen Strümpfen. Gelächter, Geschrei und Geheul tönte über den Platz, hin und wieder auch Musik und die Fanfarenstöße, die das Kommen der viel bestaunten jungen Materazzi-Elite ankündigten. Und von jedem ausgegebenen Pfennig wanderte die Hälfte in die Tasche von Kitty dem Hasen.
Bei Hinrichtungen machte sich der Pöbel einen Spaß daraus, die Verurteilten mit toten Katzen zu bewerfen. Bei Kriminellen und Verrätern galt dies als nicht anstößig, wohl aber bei Anlässen wie diesem hier – die Verhöhnung von Angehörigen der Materazzi wurde auf keinen Fall geduldet. Aber das Verbot allein hinderte manche Bürger nicht, es doch zu versuchen, und so stapelten sich im Laufe des Vormittags draußen vor den Eingängen Kadaver von Katzen, Mardern, Wieseln und hin und wieder auch Erdferkeln.
Um zwölf Uhr mittags kündigten Fanfarenstöße die Ankunft von Solomon Solomon an. Zehn Minuten später schritt Cale, nur begleitet von Vague Henri und Kleist, unerkannt durch die wartende Menge. Nur einmal hoben die Leute kurz die Köpfe, als die Büttel, die die Eingänge bewachten, die einströmenden Zuschauer für einen Augenblick anhielten und die Jungen in die Opera Rosso einließen.
EINUNDDREISSIGSTES KAPITEL
I n dem halbdunklen Warteraum unter der Opera, der nur den Materazzi vorbehalten war, die zum Zweikampf auf Leben und Tod gegeneinander antraten, saß Cale schweigend neben Vague Henri und Kleist und sah dem kommenden Ereignis mit gemischten Gefühlen entgegen. Vor zwei Tagen hatten seine Gedanken noch um zornige Rache gekreist – Zorn und Rache waren mächtige, aber ihm durch und durch vertraute Gefühle. Das war nun anders, seit er mit Arbell Schwanenhals nackt im Bett unter kostbarem Linnen gelegen und zum ersten Mal in seinem Leben die überwältigende Erfahrung vollkommenen Glücks gemacht hatte. Man stelle sich vor, was das für Cale bedeutete – für Cale, der nur Hunger und Schläge kannte, für Cale, den Schlächter -, nun in den Armen einer jungen, hinreißend schönen Frau zu liegen, die ihn leidenschaftlich liebte und ihn nicht genug küssen und streicheln konnte. Und jetzt wartete er in einem leicht modrig riechenden Gewölbe, während sich über ihm das Halbrund der Opera mit dreißigtausend Zuschauern füllte, die sehen wollten, wie er im Staub der Arena sein Leben aushauchte. Vor zwei Tagen noch hatte ihn sein Überlebenswille angetrieben, ein tiefer, instinktiver, wutgeladener Drang – und zugleich war ihm die Frage von Leben und Sterben gleichgültig gewesen. Das war nun anders, die Frage beschäftigte ihn, und so hatte er seit langer Zeit wieder Angst. Dass man das Leben liebt und am Leben hängt, war selbstverständlich wunderbar, aber nicht an einem Schicksalstag wie diesem.
So saßen die drei im Dunkeln und rangen mit dem völlig neuen Gefühl der Angst. Bei jedem Schrei oder Jubelruf, der gedämpft bis zu ihnen drang, beim Dröhnen schwerer Türen oder beim Rasseln unsichtbarer Maschinen bröckelte ihr Glaube und ihre Zuversicht mehr und mehr und machte Zweifel und Furcht Platz.
Cale blieb nur noch eine halbe Stunde, als es an der Tür klopfte. Kleist ließ Lord Vipond und IdrisPukke herein. Eingeschüchtert von der bedrückenden Atmosphäre in dem gruftartigen Gewölbe sprachen sie betont
Weitere Kostenlose Bücher