Die linke Hand Gottes
fünf Uhr auf, doch hatte es keinen Sinn, sofort aufzubrechen. »Lassen wir sie noch schlafen«, sagte Cale. »Wenn sie richtig ausgeruht ist, dann ist das auch für uns das Beste.«
»Ohne sie könnten wir schon achtzig, wenn nicht gar hundert Meilen weiter weg sein«, murrte Kleist. Im nächsten Augenblick bohrte sich ein Messer vor seinen Füßen in den Boden.
»Das habe ich von Picarbo. Schneid ihr den Hals durch, wenn du willst. Aber hör mit dem Gejammer auf.« Cale sagte das in ganz sachlichem, überhaupt nicht zornigem Ton. Kleist warf ihm einen kalten, hasserfüllten Blick zu, dann wandte er sich ab. Vague Henri fragte sich, ob Kleist wirklich bereit war, das Mädchen abzuschlachten oder ob er erwogen hatte, mit dem Messer eher auf Cale loszugehen – oder ob er bloß gern maulte. Cale war jedenfalls so klug, keine Siegerpose einzunehmen, als er wieder sprach.
»Ich habe eine Idee. Vielleicht ist das Problem mit dem Mädchen auch zu etwas gut.«
Kleist sah ihn missvergnügt an, hörte jedoch zu.
»Wenn wir uns nicht rasch genug von den Suchtrupps östlich und westlich von uns absetzen können, spüren wir sie am besten auf, damit wir nicht zufällig ihren Weg kreuzen.«
Er kauerte sich hin, nahm das Messer in die Hand und zeichnete damit in den Sand. »Wenn Henri und das Mädchen in gerader Linie nach Süden gehen und nicht mehr als zwölf Meilen pro Tag zurücklegen, dann wissen Kleist und ich stets annähernd genau, wo ihr euch aufhaltet. Kleist geht nach Westen, ich gehe nach Osten, wir spüren die Suchtrupps auf, die uns am nächsten sind.« Er zeigte auf die gerade Linie, die er für Vague Henri und Riba gezeichnet hatte. »Wenn wir der Auffassung sind, dass sie mit den im Zickzack marschierenden Suchtrupps zusammentreffen könnten, kehren wir um und führen sie in entgegengesetzter Richtung weg.«
Kleist machte eine nachdenkliche, aber auch zweifelnde Miene. »Nehmen wir einmal an«, sagte er, »du kehrst um und führst sie weg. Wie soll ich euch finden, wenn ihr nicht am Treffpunkt seid?«
Cale zuckte die Schultern. »Dann musst du selbst entscheiden, ob du uns nachspürst oder auf eigene Faust nach Memphis gehst. Warte auf uns, so lange wie du es für richtig hältst.«
Kleist rümpfte die Nase und schaute weg. Es war eine halbherzige Abmachung.
»Bist du einverstanden?«, fragte Cale mit einem Blick auf Vague Henri.
»Ja«, sagte Henri. »Ich möchte sowieso noch viel von dem Mädchen erfahren.«
Schon nach fünf Minuten marschierten Kleist und Cale, nachdem sie Essensvorräte und Wasser aufgeteilt hatten, nach Osten und nach Westen. Nach weiteren fünf Minuten waren sie bereits nicht mehr zu sehen.
Henri hatte sich wieder hingesetzt. Während er sein Frühstück aß, betrachtete er das schlafende Mädchen. Ihre makellose Haut, ihre langen Wimpern, alles an ihr strahlte süßen Frieden aus. Eine ganze Stunde verbrachte er solchermaßen von ihrem Anblick gebannt, dann wachte sie auf. Sie erschrak, als Henri, der keine drei Fuß weit von ihr saß, sie so unverhohlen anstarrte.
»Hat man dir nicht beigebracht, dass es unhöflich ist, so zu starren?«
»Nein«, gestand Vague Henri wahrheitsgemäß.
»Dann sage ich es dir jetzt.«
Vague Henri senkte beschämt den Blick.
»Entschuldige«, sagte sie. »Ich wollte nicht so streng sein.«
Sofort vergaß Henri seine Beschämtheit und brach in Lachen aus.
»Was ist denn daran so komisch«, fragte sie verstimmt.
»Bei uns bedeutet streng so viel wie vor fünfhundert versammelte Zöglinge geschleppt und dann von den Mönchen aufgeknüpft zu werden.«
»Was meinst du damit?«
»Mit einem Strick am Hals aufgehängt werden. Wie der Gehenkte Erlöser.«
»Wer ist denn der Gehenkte Erlöser?«
Das verschlug Vague Henri die Sprache. Er schaute sie an, als hätte sie gefragt, was die Sonne sei oder ob Tiere sprechen können. Eine ganze Weile fand er keine Worte, doch sein Hirn arbeitete fieberhaft an der Frage, was das wohl zu bedeuten hatte.
»Der Gehenkte Erlöser ist der Sohn des Schöpfergottes. Er hat sich geopfert und uns mit seinem Blut von unseren Sünden reingewaschen.«
»Bäh!«, entsetzte sie sich. »Wie das denn?« Beim Anblick seiner fassungslosen Miene bereute sie sofort, was sie gesagt hatte. »Entschuldige, ich wollte dich nicht kränken. Aber diese Vorstellung ist so seltsam.«
»Wie?«, fragte er, immer noch verblüfft.
»Na ja, welche Sünden? Was hast du denn getan?«
»Ich bin sündig geboren worden. Jeder Mensch
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