Die linke Hand Gottes
der alte Mann, der im Vorzimmer blieb, gleich wieder hinter ihm schloss.
Das Zimmer, in dem er nun stand, war dunkel bis auf den sorgfältig ausgeleuchteten Fußboden. Oberhalb davon waren nur schemenhafte Formen zu erkennen. Hinter dem Schreibtisch, der den Mittelpunkt des Zimmers bildete, saß eine schattenhafte Gestalt.
»Nehmt doch bitte Platz.«
Diese Stimme. So etwas hatte er noch nie gehört. Darin war keine grausame Schärfe, keine zischende Bosheit, kein drohender Unterton – Nuancen, die er seit Urzeiten gewohnt war. Diese Stimme war wie ein Gurren, Seufzen, Wimmern. Mit einem Wort, es war das Schrecklichste, was er je gehört hatte. Der Ton hallte in seinen Eingeweiden wider wie der tiefste Orgelton in der großen Kathedrale von Kiew. Er kämpfte gegen eine Übelkeit an.
»Ihr seht so blass aus«, hauchte die Stimme. »Möchtet Ihr ein Glas Wasser?«
»Nein, danke.«
Kittys Stimme seufzte, als sei er schwer bedrückt. Stape hatte den Eindruck, von etwas durch und durch Sündigem geküsst zu werden.
»Kommen wir zur Sache.«
Für die Antworten musste der Kriegermönch seine ganze Willensstärke aufbieten, eine Willensstärke, die er bei Ketzerverbrennungen und Massakern von Unschuldigen unter Beweis gestellt hatte. Tief durchatmen half nichts, denn dadurch sog er nur noch mehr von diesem süßlichen Duft ein.
»Es stimmt«, sagte Kitty der Hase, »dass die von Euch gesuchten vier jungen Leute in Memphis festgehalten werden.«
»Könntet Ihr sie erreichen?«
»Oh, unser Arm reicht weit. Braucht Ihr sie tot oder lebendig?«
»Und Ihr könntet das tatsächlich machen?« Der arme Stape Roy war einer Ohnmacht nahe.
»Eine Wahl habe ich nicht. Das gehört sich nicht.« Der Laut, den Kitty der Hase ausstieß, konnte ein leises Lachen sein oder auch nicht. Die Tür ging auf und der alte Mann, der Stape hereingeführt hatte, sagte zu ihm: »Wenn Ihr mir bitte folgen wolltet, ich kläre mit Euch alles Weitere.«
Zehn Minuten später war Stape immer noch grün im Gesicht, doch langsam erholte er sich von dem Gespräch mit Kitty dem Hasen.
»Geht es Euch jetzt besser?«, fragte der alte Mann. Stape schaute ihn an.
»Was war das eigentlich...?«
»Bitte stellt keine Fragen, die beleidigend wirken könnten«, schnitt ihm der alte Mann das Wort ab. »Eine solche Frage hier zu stellen geziemt sich nicht und ist unklug.« Er machte eine Kunstpause. »Es geht um Folgendes. Ihr wünscht, dass wir die drei Jungen und das Mädchen aus Memphis herausholen. Das ist zwar durchaus machbar, steht aber im Widerspruch zu anderen Dingen, die wir als für uns von vitalem Interesse betrachten.«
»Dann muss ich gehen und meinem geistlichen Vater berichten. Er legt Wert darauf, schlechte Nachrichten unverzüglich zu erfahren.«
»Seid doch nicht unvernünftig«, sagte der alte Mann. »Eile mit Weile. Wir werden die Gefangenen nicht aus den Augen lassen. Früher oder später müssen sie Memphis verlassen, dann geben wir Euch sofort Bescheid. Als Zeichen unseres guten Willens bringen wir sie Euch unversehrt zurück. Das ist ein Versprechen.«
»Wie lange wird das dauern?«
»So lange, wie es eben braucht. Wir werden tun, was wir versprochen haben. Aber eines muss Euch klar sein. Wenn Ihr Eurerseits Schritte unternehmt, sie in Eure Gewalt zu bringen, wird Kitty der Hase dies als Angriff auf seine Interessen ansehen.«
Es klopfte.
»Herein.«
Die Tür ging auf und zwei Wachen traten ein. »Die Männer werden Euch bis zum Tor von Kitty-Town begleiten. Euer Pferd wurde in der Zwischenzeit versorgt, nehmt dies als Zeichen unserer Anerkennung. Lebt wohl.«
Draußen schlug Stape die Luft von Kitty-Town entgegen. Dieser Lärm! Dieses Gesindel! Er kam sich vor wie ein Blinder, dem das Augenlicht wiedergegeben wird und der zum ersten Mal die grellen Farben der Hölle sieht, oder wie ein Tauber, der wieder hören kann und das Dröhnen des Weltuntergangs vernimmt. Garköche priesen lauthals Gesottenes an, daneben standen Zigeunerinnen und zeigten ihre Klunker. Halbwüchsige schrien mit hellen Stimmen: »Hier, hier gibt’s was zu gucken!« Bordellbesitzer stellten ihre halb nackten Bräute aus, Koberer flüsterten Passanten etwas zu, ältere Huren paradierten rot geschminkt. Unholde boten Lustknaben feil, und schrille junge Männer suchten mit den Zungen schnalzend einen Gimpel für eine Sause zu dritt.
Starr vor Schreck stand Stape vor diesem Schauspiel, dann gab er seiner Verachtung in einem lauten Schrei Ausdruck. Seine
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