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Die Liste

Die Liste

Titel: Die Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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natürlich nichts sagen.
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    iele Gläubige, die am Sonntagmorgen in die Kirche V gingen, verloren am Sonntagabend etwas von ihrer Frömmigkeit. Auf meiner Runde durch die Kirchen hörte ich immer wieder, wie die Prediger ihre Anhänger beschworen, doch in ein paar Stunden wiederzukommen, um den Tag des Herrn auf die Ihm gebührende Art und Weise ausklingen zu lassen. Ich zählte nie, wie viele Gläubige am Gottesdienst teilnahmen, aber in der Regel kam nur etwa die Hälfte von ihnen am Abend erneut.
    Einige Male besuchte ich Gottesdienste am Sonntagabend, gewöhnlich in der Hoffnung, ein interessantes Ritual wie Schlangenbeschwörungen oder Wunderheilungen zu sehen. Einmal wurde ich auch Zeuge eines »Kirchenkon-klave«, bei dem ein auf Abwege geratener Bruder vor Gericht gestellt und schuldig gesprochen wurde, die Frau eines anderen Bruders begehrt zu haben. Meine Anwesenheit an jenem Abend machte die Gemeinde nervös, und der reuige Sünder kam noch einmal davon.
    Doch zum größten Teil führte ich meine Studie vergleichender Theologie bei Tageslicht durch.
    Manche Menschen hatten sonntagabends andere Rituale.
    Harry Rex hatte einem Mexikaner namens Pepe dabei geholfen, einen Block vom Clanton Square entfernt ein Gebäude zu pachten und dort ein Restaurant zu eröffnen.
    Das Lokal wurde in den Siebzigerjahren mit anständigem, immer ein wenig zu scharfem Essen recht bekannt. Pepe fand einfach kein Maß bei den Peperoni, obwohl sie den Gringos die Tränen in die Augen trieben.
    In Ford County war Alkohol sonntags verboten. Er durfte weder in Geschäften noch in Restaurants verkauft 363

    werden. Pepe hatte ein Hinterzimmer mit einem langen Tisch und einer Tür, die abgesperrt werden konnte. Er gestattete Harry Rex und seinen Gästen, den Raum zu benutzen und so viel zu essen und zu trinken, wie sie wollten. Seine Margaritas waren eine Sensation. Wir ließen uns dort viele Mahlzeiten mit stark gewürzten Gerichten schmecken, die grundsätzlich mit Margaritas hinuntergespült wurden. Gewöhnlich waren wir zu zwölft, alle männlich, alle jung, etwa die Hälfte verheiratet. Harry Rex drohte uns mit Mord, falls wir auch nur einer Menschenseele von Pepes Hinterzimmer erzählten.
    Einmal führte die Stadtpolizei von Clanton eine Razzia durch, aber Pepe verstand plötzlich kein Englisch mehr.
    Die Tür zum Hinterzimmer war abgesperrt und nicht auf den ersten Blick erkennbar. Pepe machte das Licht aus, und zwanzig Minuten lang warteten wir im Dunkeln. Wir tranken unsere Margaritas und hörten zu, wie die Polizisten versuchten, sich mit Pepe zu verständigen. Ich weiß nicht, warum wir uns eigentlich Sorgen machten.
    Clantons Stadtrichter, ein Anwalt namens Harold Finkley, saß am Tischende und schlürfte gerade seine vierte oder fünfte Margarita.
    Die feuchtfröhlichen Sonntagabende bei Pepe dauerten häufig lange, und danach war keiner von uns mehr in der Lage, Auto zu fahren. Ich ging meist in die Redaktion hinüber und schlief auf dem Sofa in meinem Büro. Dort lag ich auch und schnarchte den Tequila weg, als eines Sonntags nach Mitternacht das Telefon klingelte. Es war ein Bekannter von einer großen Tageszeitung in Memphis.
    »Werden Sie über die Anhörung des Bewährungsausschusses morgen berichten?«, fragte er. Morgen? Ich war so vom Alkohol umnebelt, dass ich nicht einmal wusste, welchen Tag wir gerade hatten.
    »Morgen?«, murmelte ich.
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    »Am Montag, dem 18. September«, antwortete er langsam. Im Jahr 1978, da war ich mir einigermaßen sicher.
    »Was für eine Anhörung von was für einem Be-währungsausschuss?«, fragte ich, während ich verzweifelt versuchte, aufzuwachen und einen zusammenhängenden Gedanken zustande zu bringen.
    »Die von Danny Padgitt. Haben Sie denn nichts davon gehört?«
    »Nein, kein Wort!«
    »Sie ist für zehn Uhr in Parchman angesetzt.«
    »Das soll wohl ein Witz sein!«
    »Nein. Ich habe es eben herausgefunden. Offenbar hängen sie Anhörungen nicht an die große Glocke.«
    Ich saß noch lange Zeit im Dunkeln da und verfluchte wieder einmal die Rückständigkeit eines Staates, der derart wichtige Angelegenheiten auf solch lächerliche Art und Weise durchführte. Wie konnte man eine Haftentlassung auf Bewährung für Danny Padgitt auch nur in Erwägung ziehen? Seit dem Mord und Padgitts Prozess waren acht Jahre vergangen. Er war zu zweimal lebenslänglich verurteilt worden, was mindestens zweimal zehn Jahre bedeutete. Wir gingen alle davon aus, dass er wenigstens

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