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Die Liste

Die Liste

Titel: Die Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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Stunden und zwölf Minuten lang (ich sah bei jeder Predigt auf die Uhr) Reverend Thurston Smalls Predigt an.
    Die kürzeste Predigt wurde von Pastor Phil Bish von der Kirche der Vereinigten Methodisten in Karaway gehalten
    – siebzehn Minuten. Diese Kirche war auch die kälteste.
    Die Heizung war kaputt, und es war Januar. Vielleicht geriet die Predigt deshalb so kurz. Ich saß neben Margaret in der Kirche der Ersten Baptisten in Clanton und hörte Reverend Millard Stark zu, der seine alljährliche Predigt über die Sünden des Alkohols hielt. Wie der Zufall es wollte, hatte ich an jenem Morgen einen fürchterlichen 359

    Kater, und Stark sah immer wieder zu mir her.
    Die Gemeinschaft des Erntetabernakels hielt ihren Gottesdienst im Hinterzimmer einer leer stehenden Tankstelle in Beech Hill ab. Zusammen mit sechs anderen Menschen hörte ich einem Pessimisten mit wirrem Blick zu, der Peter der Prophet hieß und uns fast eine Stunde lang anbrüllte. In dieser Woche fiel meine Kolumne recht kurz aus.
    Der Gottesdienst der Kirche Jesu Christi in Clanton wurde nicht mit Musikinstrumenten untermalt. Wie man mir später erklärte, verbiete die Bibel das. Jemand sang ein wunderschönes Solo, über das ich mehrere Zeilen schrieb. Der Gottesdienst selbst war bar jeglicher Gefühle.
    Bei der Kirche vom Berg Pisgah in Lowtown erlebte ich genau das Gegenteil – rund um die Kanzel waren Schlagzeug, Gitarren, Blasinstrumente und Verstärker aufgebaut worden. Als Einstimmung auf die Predigt wurde ein komplettes Konzert gegeben, bei dem die Gemeinde sang und tanzte. Miss Callie nannte Berg Pisgah eine
    »unbedeutende Kirche«.
    Nummer vierundsechzig auf meiner Liste war die Unabhängige Kirche von Calico Ridge, deren Gotteshaus sich in den Hügeln im Nordosten des County versteckte.
    Den Archiven der Times zufolge war 1965 ein Mr Randy Bovee während eines Gottesdienstes an einem späten Sonntagabend zweimal von einer Klapperschlange gebissen worden. Mr Bovee überlebte, und für eine Weile wurden die Schlangen aus dem Gottesdienst verbannt. Im County sprach man allerdings immer noch über die Episode, und als meine Kolumne bekannter war, wurde ich mehrmals gefragt, ob ich auch Calico Ridge besuchen wolle.
    »Ich werde jede Kirche besuchen«, antwortete ich stets.
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    »Die mögen keine Besucher«, warnte mich Baggy.
    Ich war bis jetzt in jeder Kirche – schwarz oder weiß, groß oder klein, Stadt oder Land – überaus herzlich aufgenommen worden und konnte mir nicht vorstellen, dass fromme Christen einen Gast unhöflich behandelten.
    Die Gläubigen von Calico Ridge waren nicht unhöflich, aber auch nicht sehr erfreut über meinen Besuch. Ich wollte die Schlangen sehen, doch von meinem sicheren Platz ganz hinten. Ich hatte mir einen Gottesdienst am Sonntagabend ausgesucht, vor allem, weil das Gerücht umging, dass sie die Schlangen nicht bei Tageslicht
    »aufnähmen«. Zwar hatte ich in der Bibel nachgesehen, aber keine Stelle für eine solche Einschränkung gefunden.
    Ich sah keine einzige Schlange. Allerdings gab es ein paar Anfälle und Zuckungen vor der Kanzel, als der Prediger uns zurief, wir sollten »hervortreten und in Sünde stöhnen!«. Der Chor sang und summte im Takt einer elektrischen Gitarre und einer Trommel, und der Gottesdienst nahm allmählich Züge eines heidnischen Stammestanzes an. Am liebsten wäre ich gegangen, vor allem, weil es keine Schlangen gab.
    Nach einiger Zeit fiel mein Blick auf ein Gesicht, das ich schon einmal gesehen hatte. Es war schmal, blass und hager, eingerahmt von grauem Haar. Ich wusste nicht, wer der Mann war, aber er kam mir irgendwie bekannt vor. Er saß in der zweiten Bank von vorn, und hatte offenbar keinerlei Interesse an dem chaotischen Gottesdienst.
    Plötzlich drehte der Mann sich um und sah mir ins Gesicht. Es war Hank Hooten, der ehemalige Anwalt, der 1971 Amok gelaufen war und die Stadt beschossen hatte!
    Er war in eine Zwangsjacke gesteckt und in die staatliche Nervenheilanstalt Whitfield eingewiesen worden. Einige Jahre später war das Gerücht umgegangen, er sei entlassen 361

    worden. Allerdings hatte ihn seitdem niemand mehr gesehen.
    Nach dem Gottesdienst versuchte ich zwei Tage lang, Hank Hooten ausfindig zu machen. Meine Anrufe in der Nervenheilanstalt brachten nichts. Hank hatte einen Bruder in Shady Grove, aber dieser weigerte sich, mit mir zu sprechen. Ich schnüffelte ein wenig in der Gemeinde Calico Ridge herum, aber dort wollte man einem Fremden wie mir

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