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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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rechtzeitig ab.
    Meine Großmutter war gefunden worden. Meine Großmutter lebte.
    «Sie lebt», rief ich aus und war ob meiner eigenen Lautstärke überrascht. Ich klang lauter, als ich mich tatsächlich freute.
    «Noch», sagte meine Mutter und brach dann ganz plötzlich zusammen, ich hörte sie erst laut schluchzen und dann beinahe winseln, auf «Mama», und «Sag doch» und «Mama, hörst du mich?» und «Was ist denn?» reagierte sie nicht.
    Frank war plötzlich dran, Frank sagte Uniklinikum, Intensivstation, aber bald vielleicht geriatrische Abteilung.
    Eine Krankenschwester, die sich in den Wochen nach Annas Geburt, nach der ersten OP um uns kümmerte, hatte einmal gesagt: «Früher war ich in der Geriatrischen, da werden die Alten zum Sterben hingebracht. Aber hier bei den schwerkranken Kinderchen ist es auch nicht einfach.»
    Frank sagte Spürhunde, Perlacher Forst, bewusstlos, ausgekühlt, Finger abgefroren, Lungenentzündung, Leistenbruch, Beinbruch an zwei Stellen, Gehirnerschütterung, er sagte: «Ob sich zu operieren lohnt, wissen sie nicht.»
    Noch eine OP . Ich packte mein Notizbuch ein und machte mich auf den Weg.
    Irgendwann zwischen der Intensiv- und der geriatrischen Station drückte mir Frank wortlos ein sorgfältig zusammengefaltetes Blatt in die Hand, das er aus einem Briefumschlag hervorgeholt hatte. Der Name meines Vaters stand in kyrillischen Buchstaben und vielen Versionen auf der einen Seite, auf der anderen Seite nur ein riesengroß gezeichnetes Wort: « ENTSCHULDIGUNG ». Um es zu lesen, musste man das Blatt im Querformat halten.
    Ein kleiner Zettel, der nichts weiter beinhaltete als verschieden notierte Versionen des Namens Sascha. Einige waren nur hingekritzelt worden, andere schön gezeichnet. Bei einem bestand jeder Buchstabe aus klitzekleinen, sorgfältig gemalten Blumen, ein anderer war von einer Zeichnung eines Männerschuhs umrahmt, ein dritter spiegelverkehrt geschrieben. Manchmal waren die Buchstaben gewollt ohne Kanten, ein anderes Mal 3 -D-Buchstaben. Als hätte jemand viel Zeit zum Kritzeln und Malen gehabt.

[zur Inhaltsübersicht]
    Neunzehntes Kapitel
    ENTSCHULDIGUNG
    So hatte er sich das Ende nicht vorgestellt. Nicht das Ende an sich und auch nicht das seine. Und weil die Dinge selten so waren, wie er sie sich nicht vorgestellt hatte, war er erst einmal in eine Art Schock gefallen. Die Milizionäre nannten ihn eine besonders harte Nuss, das hatte er noch mitbekommen, aber stolz war er nicht gewesen, weil ihn diese Tatsache – dieses Lob, wenn man bedachte, wer da sprach – ebenso wenig berührte wie ihre nervenden Fragen. Er ließ die Fragen nicht unbeantwortet, weil er eine harte Nuss war, sondern weil er schlichtweg nicht zuhörte. Einen halben Tag lang beschäftigte ihn die Locke über dem rechten Ohr seines Gegenübers in der Mitte. Die Haare waren bereits ergraut und so kurz geschnitten, dass man das ehemals Gelockte darin nur erahnen konnte, aber über seinem rechten Ohr hing eine Locke, dunkler als das restliche Haar. Warum? Diese Frage beschäftigte ihn ungemein und eben bis zum Mittagessen (während sie zum Mittagessen gingen, wurde ihm ein Teller mit matschigem Kartoffelbrei hingestellt, den er nicht anrührte). Er dachte weiter über die Locke nach. Er würde besonders weiche Kohle benötigen, um sie zu zeichnen.
    Am Nachmittag desselben Tages dachte er über Primzahlen nach. Die Existenz von Primzahlen verwirrte ihn plötzlich. Waren sie die besseren Zahlen, weil sie sich nur durch eins und sich selbst teilen ließen, oder waren sie die langweiligen armen Verwandten jener Zahlen, die zu mehr zu gebrauchen waren? Hatten all die Mathematiker seit Pythagoras etwas übersehen, wenn sie Primzahlen so definierten? Er erstellte Mathematikaufgaben im Kopf.
    Es dauerte Tage, bis sie ihn in Ruhe ließen, und noch ein paar Tage, bis er es zuließ, dass Bilder ihn aufsuchten. Es begann nachts, im Schlaf. Er wachte schweißgebadet auf, saß plötzlich aufrecht im Bett (was bedeutete, dass er mit dem Kopf gegen das Bett über ihm gestoßen war, es standen zwei Stockbetten in der Zelle, aber er war allein, wohl zu gefährlich für Zellengenossen) und hörte noch immer die Sirenen heulen. Nach jener Nacht, in der er nicht mehr schlief, um keine Sirene hören zu müssen, sondern sich darauf konzentrierte, im Dunkeln Kakerlaken zu zählen, hatte er irgendwann auch den Anfang in seinen Kopf gelassen: Im Auto hatten sie gelacht, es war ein aufgeregtes, nervöses Lachen über

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