Die Listensammlerin
Nuss war, er schmunzelte im Nachhinein darüber, er hatte doch nur nicht zugehört.
Er wusste, sie würden ein Exempel statuieren müssen, so war die Zeit, oder vielleicht war die Zeit schon immer so gewesen, ins gelbe Haus würde er nicht kommen, eher nach Sibirien oder direkt in die Psychiatrie. Ihm wäre harte Arbeit lieber als eine psychiatrische Anstalt. Kälte machte ihm nichts aus, vor zwei Jahren hatte er eine Forschungsgruppe nach Sibirien begleitet und die Kälte geliebt. Beide Urteile wären Todesurteile, aber er schuftete sich lieber zu Tode, als nur aus dem Grund ein Psychiatriefall zu werden, weil er in der Psychiatrie saß. Er staunte, wie wenig ihn dennoch der Gedanke ängstigte.
Aber Sascha. Um Sascha machte er sich Sorgen, der käme in einer solchen Welt nicht zurecht. Und seine Schwester, seine Nichte, seine Mutter. Sie brauchten Sascha. Ihn brauchte höchstens Sergej, und selbst da war er sich alles andere als sicher. Sergej hatte ihn eine Weile einen Clown genannt, was ihn kränkte, so hatten ihn auch mehrere seiner Klassenlehrer genannt, und Clowns, so hatten sie damals erklärt, seien an der richtigen Stelle (und nur da!) eine nette Beigabe und sonst jederzeit ersetzbar. Er war ein Clown, und Sascha war Vater, Ehemann, Schwiegersohn.
In der Nacht vor der Verhandlung schlief Grischa nicht. Er war ganz ruhig, nicht nervös, er starrte die verschimmelte Matratze über sich an, den Schimmel sah er im Dunkeln nicht, aber er roch ihn, er schloss die Augen, stellte sich Wolken vor, die er zählen konnte, und als er die vierhundert erreicht hatte, machte er sie wieder auf.
Jemand brachte ihm am nächsten Morgen einen Anzug. Die Hose war zu lang, das Jackett zu kurz. Beides roch unangenehm feucht, aber besser als die Kleidung, die er jetzt schon so lange trug (wie viele Tage und Wochen es waren, konnte er nicht mehr sagen, war ihm auch egal). Sie legten ihm Handschellen an, als sie ihn hinausführten, und für einen Moment fand er es amüsant und aufregend, als sei er ein Kind, das mit echten Handschellen spielen durfte.
Der Gerichtssaal war noch fast leer. Er kannte diese Säle, er hatte eine Zeitlang in der juristischen Bibliothek eines Gerichts gearbeitet. Auf dem Tisch vor ihm lagen ein Notizheft und ein Kugelschreiber, und Grischa hätte den hässlichen, glatzköpfigen Milizionär, der ihn abgeholt und hergebracht hatte, dafür umarmen und küssen wollen, hätte er nicht Handschellen getragen. Er hatte in den letzten Tagen eine Methode entwickelt, um seine Listen weiterzuführen: Er lernte sie auswendig. Er wiederholte sie laut, immer wieder, eine Liste pro Stunde (er schätzte die Stunden, eine Uhr hatte er nicht). Es half gegen die Bilder, gegen die Fragen, um nicht verrückt zu werden. Aber zeichnen hatte er im Kopf nicht können. Seine Finger zitterten vor Aufregung, gleich würden sie einen Stift erfassen. Schon in diesem Augenblick fühlte er sich nicht mehr so elendig allein.
Der hässliche Glatzkopf schubste Grischa auf den Stuhl, machte sich aber keine Mühe, die Handschellen aufzuschließen, und ging Richtung Tür, an der zwei Wachen standen.
«Entschuldigen Sie, aber die Handschellen?»
«Hast du nicht verdient, dass man dir die Handschellen abnimmt!» Er drehte sich noch nicht einmal um.
Er wartete darauf, dass Sascha, Hasenkopf und Kostja, ja, auch Kostja, hereingebracht wurden, es dauerte neununddreißig Minuten (im Saal hing eine Uhr, endlich eine Uhr!), bis die Tür wieder aufging. Er hatte auf die Wachen eingeredet, sie nach dem Wetter draußen gefragt, ihnen Witze erzählt und von seiner Großmutter, sie nach ihrem Familienstand gefragt, dann zwei Gedichte von Pasternak rezitiert. Sie ignorierten ihn, befanden ihn noch nicht einmal eines «Halt das Maul» für würdig.
Richter betraten den Saal, Männer in schwarzen Anzügen, einer trug Nadelstreifen, Besucher. Er meinte, den Mann zu erkennen, der ihn vom gelben Haus zum Wagen geschleift hatte. Seine Familie war nicht da, Erleichterung, weil seine Mutter ihn so, in Handschellen, nicht sehen durfte. Ihre Enkel brauchten sie noch. Sascha, Hasenkopf und Kostja waren allerdings auch nicht da. Jemand brachte ihm einen Zettel, den er unterschreiben musste, jemand anderes sagte, es sei das Protokoll seines Verhörs, er sollte es einfach unterschreiben, zum Lesen war keine Zeit. Sie machten die Handschellen auf und nach dem Unterschreiben nicht wieder zu. Also nahm er den Stift in die linke Hand, die ein wenig zitterte, aber
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