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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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ein Lächeln. Als wir alle dachten, es sei alles vorbei, sie wisse nun gar nichts mehr und könne gar nichts mehr und sehe und höre gar nichts mehr, da stand sie auf und ging, und jetzt wurde sie von der Polizei samt Spürhunden überall gesucht.
    Am meisten hatte meine Großmutter die Trommeln gemocht, und als ich die Kiste mit den Musikinstrumenten auf einem der Billy-Regale stehen sah, stand ich auf, holte sie herunter und trommelte ein bisschen vor mich hin und summte «Katjuscha» dazu. (In meinem Roman, den ich nicht schrieb, dachte ich mir, hätte ich jetzt geschrieben, der Protagonistin gehe es besser, sie fühle sich der verlorenen (oder hätte ich «verschwundenen» geschrieben?) Großmutter näher, auf mich selbst traf das nicht zu, ich fühlte mich genau wie zuvor. Verwirrt und traurig und aufgeregt und angreifbar und distanziert und seltsam ruhig und sehr, sehr erschöpft.)
    Ich fütterte den türkischen Mann, um etwas zu tun zu haben, nicht fehl am Platz zu sein. Sein Sabbern, sein Nicht-schlucken-Können, den leeren Blick konnte ich besser übergehen als bei meiner Großmutter, und diesen Sachverhalt schrieb ich zwischendrin auf, für welche Liste, würde ich zu Hause noch überlegen müssen. Plötzlich blickte er mich erstaunt an, ich hoffte kurz, es sei, weil er erkannte, dass ich ihn sonst nicht fütterte, und dieser Gedanke freute mich, obwohl ich nicht einmal wusste, wie er hieß. Aus der Nähe sah ich nun, dass seine Armbanduhr, auf die er so regelmäßig, so konzentriert blickte, eine kaputte Mickey-Mouse-Uhr war. Vielleicht von seinem Enkel.
    Nach dem Abendessen wurden sie schlafen gebracht, so früh bekam ich nicht mal Anna ins Bett. Frau Neitz wirkte traurig, und als ich sie fragte, ob alles in Ordnung sei, sagte sie: «Nächte sind schlimm. Fragen Sie Ihre Großmutter!» Ich hätte meine Großmutter gerne so einiges gefragt. Ich räumte die Spülmaschine ein.
    Frank hatte gesagt, mein Vater und Onkel Grischa seien Dissidenten gewesen, ich dachte sofort an China und Ai Weiwei und hörte zum ersten Mal seit langer Zeit gebannt bei einem seiner Vorträge zu. Die meisten seiner Vorträge langweilten mich, zu wissenschaftlich und zu detailreich, einmal hatte ich nach der Herkunft von Katharina  II . gefragt und mir eine Stunde lang etwas über die Kaiserliche Freie Ökonomische Gesellschaft anhören müssen, die sie gegründet hatte. Viele wiederholten sich, seine Themen waren die Geschichte der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, die Februarrevolution und Lev Tolstoj. Letzteres war weniger Thema als Lebensinhalt. Die Dissidenten hatte er bisher nie erwähnt. Die Dissidentenbewegung in der Sowjetunion, hörte ich heute, und ich hatte fast mitschreiben wollen wie an der Uni, hatte bereits Ende der Fünfziger begonnen, Autoren, Künstler, Studenten, Wissenschaftler, «Antisowjetschiki», zahlenmäßig keine große, aber eine deshalb nicht weniger wichtige Bewegung, die sich aus der Intelligenzija rekrutierte. Sie druckten und vervielfältigten verbotene Bücher, Gedichte, politische Pamphlete und beriefen sich auf Menschenrechte und die Demokratie. Dazu gehörte der laut Frank berühmte Atomphysiker Andrej Sacharow, es gab aber auch viele kleine Gruppierungen, die im Untergrund kämpften. Mein Onkel Grischa (mein Onkel! Bis heute hatte ich nicht von ihm gehört) war der Kopf einer solchen Gruppe gewesen, mein Vater (mein Vater!) war sein bester Freund und auch seine rechte Hand.
    «Dein Vater hörte auf Grischa. Alle hörten auf Grischa», hatte Frank gesagt.
    Grischa. Grischenka. «Nur kein Grischenka soll es werden, um Gottes willen kein Grischenka», hatte Großmutter gesagt, nicht nur einmal, um nach einem verlorenen Blick in die Ferne hinzuzufügen: «Wenn du Glück hast, dann wird es ein Grischenka!»
    Ich ließ das Geschirr mitten im Einräumen stehen, immerhin arbeitete ich hier nicht, und setzte mich an den Tisch. Für die Liste «Was ich über Onkel Grischa weiß». Ich schrieb gerade:
    • er wurde von jemandem verraten und, während er fotografierte, verhaftet, mein Vater, der ihm half, ebenfalls
    • beide wurden zur Strafe nach Perm- 36 geschickt (Arbeitslager, aus dem man selten wieder zurückkam), Frank war bei der Verhandlung dabei
    • die Polizei (Milizija) begann, auch die Familie zu verfolgen, deshalb half Frank meiner Mutter und meiner Großmutter, das Land zu verlassen
    • Tod:
    als mitten im Satz das Handy klingelte. Ich hörte es nicht sofort und nahm gerade

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