Die Listensammlerin
einen blöden Witz von Kostja gewesen, dem sie zu einem anderen Zeitpunkt keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt hätten, den Kostja zu einem anderen Zeitpunkt vielleicht auch gar nicht erzählt hätte, er hatte hinten neben Sascha gesessen und ihm spontan einen Arm um die Schulter gelegt, und Sascha hatte gegrinst. An diesem Lachen hatte er sich ein paar Tage festgehalten, bis er ein weiteres Bild zuließ, das Bild, das er geknipst hatte, das einzige, das er geknipst hatte. Sein Herz hatte aufgehört zu klopfen, sobald er die Kamera aus seinem grünen Rucksack geholt hatte. (Wo war seine Kamera eigentlich jetzt? Er dachte lieber nicht darüber nach.) Er kannte das schon, sein Herz würde aufhören zu klopfen, wenn er die Kamera in den Händen hielt oder seinen Zeichenblock. Es klopfte natürlich schon, er war ja nicht tot, aber er hörte und spürte es nicht mehr. Es existierte nur noch das, was vor seiner Linse war, und was vor seiner Linse war, ging ihn nichts an. Auch nicht die Frau auf dem ersten und einzigen Bild. (Und ob es so gut geworden war, wie es vor der Linse aussah, würde er niemals erfahren. Wo war seine Kamera nun? Würde sie als nummeriertes Beweisstück im Archiv verschwinden oder würde sie sich einer der Milizionäre unter den Nagel reißen? Das neue Blitzlicht, das Hasenkopf ihm besorgt hatte, wohl auf jeden Fall, es bewies ja nichts.)
Die Frau auf dem ersten und einzigen Bild, das er aufnehmen konnte, bevor er die Sirenen hörte, bevor er, ja, was tat er eigentlich dann, was tat er in den Minuten von den Sirenen bis zu dem Schrei «Stehen bleiben, nicht bewegen», bis zu der Faust in seinem Nacken müssen doch Minuten vergangen sein, was hatte er getan, Sascha geholfen? Die Frau, die er fotografiert hatte, war dabei gewesen, sich die Eingeweide aus dem Leib zu kotzen, sie würgte, und das Gewürgte floss, da sie aufrecht saß und sich über ihren Schoß beugte, direkt auf ihren Beinstumpf. Sie hatten das Würgen bereits vom Flur aus gehört, auch wenn es sich mit anderen Geräuschen mischte, und sobald er das Zimmer betreten und die Kotze auf dem Beinstumpf gesehen hatte, hatte er die Kamera gezückt, und sein Herz hatte aufgehört zu klopfen (oder war die Reihenfolge genau umgekehrt gewesen?). Genau einmal hatte er auf den Auslöser drücken können, bevor Sascha ins Bild trat und die Frau an den Schultern fasste, um ihr zu helfen, und er sich darüber beschwerte, man veränderte nicht die Welt, indem man helfende Hände auf Bildern zeigte, dann hatte er die Sirenen gehört.
Es hatte noch weitere Tage gedauert (oder waren inzwischen Wochen vergangen?), bis er mehr als nur diese Bilder sah, sein Arm um Saschas Schulter im Auto, das gelbe Haus, dann Sascha auf dem Boden, eine Milizuniform über ihm, draußen Hasenkopf in Handschellen, sechs blaue Milizwagen, das höhnische Gesicht des Kerls, der ihn in den Wagen schubste, so, dass er mit dem Kopf gegen den Rahmen stieß. Er drehte sich immer wieder um, auch als der Wagen schon anfuhr, aber Sascha sah er nicht noch einmal.
Noch länger dauerte es, bis Grischa sich fragte, warum und wer. Dass es jemand gewesen sein musste, dessen war er sich sicher, woher sonst hätten sie es erfahren sollen? Pünktlich waren sie da gewesen, fast auf die Minute. Ein Bild von Kostja fehlte ihm, er sah Kostja vor sich, der das Auto fuhr und den schlechten Witz erzählte, an den er sich nicht mehr genau erinnern konnte, obwohl sie alle darüber gelacht hatten, nervös und aufgeregt, aber ein Bild von Kostja nach der Autofahrt, nach der Verhaftung hatte er nicht im Kopf. Vielleicht hatte er ihn nicht gesehen, weil … Kostja hätte niemals …!
Er war allein in seiner Zelle, und als ihm das, nach Tagen erst, auffiel, begann er darauf zu hoffen, ein Mitbewohner möge ihm zugeteilt werden, jemand, mit dem er reden, mit dem er Stadt, Land, Fluss spielen könnte oder das Spiel, bei dem der eine einen Städtenamen nannte und der andere eine Stadt nennen musste, deren Name mit dem Endbuchstaben der ersten begann. Astrachan – Novosibirsk – Kursk – Kasan – Niznij Nowgorod – Donezk, er war gut vorbereitet, er spielte es nun gegen sich selbst. Etwas anderes als die Gedanken. Kostja doch nicht, nicht Kostja! Wo waren sie, Kostja und Hasenkopf? Wo war Sascha? Wo, bitte, war Sascha?
An die Nichtbeteiligten zu denken, an seine Mutter, seine Schwester, seine Nichte, erlaubte er sich nicht.
Die Verhöre hatten aufgehört, sie hatten aufgegeben, weil er so eine harte
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