Die Listensammlerin
wahr?», sagte sie in Richtung Lieschen/Lottchen und dann, als sei sie völlig klar im Kopf: «Das Vöglein wartet auf das Omalein, nicht wahr?»
«Essen Sie mit?», fragte die polnische Pflegerin, und ich nickte, obwohl mir bei der Vorstellung, an diesem Plastiktisch zwischen den lätzchentragenden Alten dieses Mikrowellenfutter zu mir zu nehmen, der Hunger verging. Die Polin wartete meine Antwort nicht ab und stellte einen Teller vor mich hin. Es sollte, so vermutete ich, ein Gemüseauflauf sein, der in etwas schwamm, was als Bratensoße gemeint sein könnte. Mir fielen die Croissants ein, die Frank und ich nicht angerührt hatten, ich holte sie heraus und fragte die Polin, ob ich sie hier essen dürfe.
«Aber natürlich, natürlich», antwortete Frau Neitz, als sei sie die Chefin hier, und hielt sich die Hand an den Mund, als würde sie ein Geheimnis verraten, während sie laut und deutlich sagte: «Passen Sie nur auf, dass Ihnen Herr Müller-Deutz nicht in die Suppe spuckt, das tut er gern. Das tue ich manchmal aber auch», und sie kicherte und zwinkerte mir verschwörerisch zu. Meine neue beste Freundin Lieschen/Lottchen Wägle war offensichtlich beleidigt und drehte sich demonstrativ weg. Die Möbel im Speisesaal waren zusammengewürfelt: Gelsenkirchener Barock neben einer fleckenübersäten, abgeratzten bayerischen Esszimmerbank, dahinter Billy-Regale, in denen Kunstwerke der Bewohner standen; Dinge, die etwas hätten werden sollen – Tiere, Gegenstände, Personen – und nur Formen geblieben waren, aus diversen Materialien hergestellt: Knete, Salzteig, Pappmaché, Ton. Von meiner Großmutter war nichts dabei, sie hielt schon lange nichts mehr in der Hand.
Von allen Aktivierungsmaßnahmen, wie sie genannt wurden, hatte sie die Musikstunde noch am meisten gemocht, und ich hatte sie gerne dorthin begleitet. Die Aktiviererin, wie ich sie Flox gegenüber nannte, war eine kurvenreiche spanische Schönheit mit Pippi-Langstrumpf-Zöpfen, die nicht zu mögen selbst mir schwerfiel. Sie verteilte Rasseln, Tamburine und Trommeln, auch Liederbücher, in denen die Buchstaben groß gedruckt waren, in die außer mir und Herrn Peitle niemand blickte, und lesen, da war ich mir sicher, konnte Herr Peitle nicht mehr. Herr Müller-Deutz kaute immer am Liederbuch herum, weshalb bei allen Büchern die Ecken fehlten, was seine Frau, die ihn jeden Tag besuchte, nachdem sie eingekauft und ihre Einkaufstüten ausgepackt hatte, bedauerte. Über das Liederbuch-Essverhalten ihres Mannes gingen wir alle, auch die Aktiviererin, geflissentlich hinweg. Meine Großmutter liebte die Trommeln, mit ihren großen, runzligen Händen schlug sie im Rhythmus von «Abend wird es wieder» oder «Das Wandern ist des Müllers Lust» dagegen und lächelte und kicherte manchmal sogar. Später machte sie ihre eigene Musik, sie summte und sang, obwohl sie kaum noch deutlich sprechen konnte, alte sowjetische Lieder, sie sang und summte und trommelte den Marsch. «Katjuscha» war dabei, es war das einzige Lied, das ich erkannte, und als ich meine Mutter nach diesen Liedern fragte, erklärte sie, es handele sich um russische Kriegslieder oder Chansons. Die Aktiviererin bat mich, eine CD mit russischen Liedern für meine Großmutter mitzubringen, und ich begann sofort nachzurechnen, hatten Herr Peitle oder Herr Müller-Deutz vielleicht noch gegen die Russen gekämpft, könnten sie in Kriegsgefangenschaft gewesen sein? Ich fragte Frank, wohl wissend, dass meine Mutter keine russische Musik besaß, und bis er eine CD aufgetrieben und sie mir gegeben hatte, bis ich sie an die hübsche Spanierin weitergereicht hatte (die mir dann nebenbei erzählte, in den anderen Wohnungseinheiten im Heim fassten ihr alte, gebrechliche, senile Männer an den Hintern), hörte meine Großmutter schon nicht mehr hin. Nicht mehr hin, wenn die Pfleger ihr Anweisungen gaben, wenn ich mit ihr sprach, wenn ein Gerät, das sie nicht kannte, ihre Musik von glänzenden Scheiben, die sie nicht kannte, abspielte. Es ging damals schnell bergab: Erst freute sie sich, wenn ich kam, und hatte Angst, wenn ich ging, und meine Mutter lehrte mich zu lügen: Ich sagte ihr, ich sei gleich wieder da, ich hole nur ein Eis (Eis liebte sie neuerdings wie ein Kind, sie nahm das Wieder-zum-Kind-Werden sehr ernst). Dann freute sie sich, wenn ich kam, obwohl sie keine Ahnung mehr hatte, wer ich war, bald darauf aber schickte und schubste sie mich weg, wenn ich kam, und irgendwann schenkte sie nur noch Anna
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