Die Listensammlerin
bereits auf dem Weg zum Papier ruhiger wurde. Er begann einfach, er zeichnete die Uhr ab, zehn Uhr dreizehn. Er zeichnete den Tisch des Richters ab, dann dessen Schuhe. Den Kronleuchter, das Vorhangmuster, den alten goldenen Türgriff. Erst dann wandte er sich den Menschen zu. Er nahm sich ein frisches Blatt aus dem Notizblock und fing einfach im Publikum rechts vorne an, bei dem großen Mann mit dem langen Bart im karierten Jackett, Presse wahrscheinlich, auch er kritzelte etwas, vielleicht sogar von der Prawda? Er machte weiter, der Saal war voll, und erst als er in der letzten Reihe angekommen war, entdeckte er, wer da auch saß: der Deutsche. Frank war da. Seine Familie war nicht da, zum Glück. Seine Freunde waren nicht da, für sie war es hier zu gefährlich. In seiner Nähe assoziiert zu werden. Sergej war nicht da, aber auf den hatte er gar nicht zu hoffen gewagt. Frank war da, er hatte sich getraut. Er riss sich im letzten Augenblick zusammen und presste die Lippen aufeinander, um nicht zu lächeln. Es sollte niemand bemerken, dass er Frank kannte, ihn wollte er nicht auch noch in Schwierigkeiten bringen. Aber er freute sich, freute sich zum ersten Mal seit Wochen wieder.
Erst als alle im Saal aufstanden, fiel ihm auf, dass er nur gezeichnet, nicht zugehört hatte. Schade eigentlich. Er war so verwirrt, so ungenau in der letzten Zeit. Und auch oft so müde. Die echte Uhr, war ihm aufgefallen, ging viel langsamer als seine innere. Wie viele Wochen hatte er in dieser Zelle verbracht? Wann waren sie im gelben Haus gewesen? Er konnte sich an die ersten Verhöre kaum erinnern, nur an Details, an die schwarze Locke des einen Mannes, an den Kugelschreiber des anderen auf dem Tisch. Und an seine Kopfschmerzen, sein Kopf hatte so geschmerzt, er hatte viel geschlafen, einen Tag, mehrere Wochen? Es war ihm egal gewesen, was war eigentlich los mit ihm? Er hatte das Gefühl, jetzt etwas machen zu müssen, irgendwas, die Verhandlung hätte seine Bühne sein können, sein müssen, aber er war zu müde, und ihm fiel auch nichts ein. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.
Sascha. Wo war Sascha?
Er kritzelte jetzt nur noch vor sich hin. Blumen. Buchstaben, die aus Blumen bestanden. Keine Zeichnungen mehr.
Das Urteil verlas eine Frau, eine der wenigen im Saal.
Er hatte den Namen Perm- 36 schon gehört. Nur den Namen, sonst nichts. Er wusste, man kehrt von dort nicht zurück, deshalb hatte er auch nicht mehr darüber gehört. Natürlich, sie mussten ein Exempel statuieren.
Perm- 36 .
Es ging jetzt plötzlich alles ganz schnell; was sie sagten, seine Gedanken, ihm war schwindelig vom Stehen, er sah Frank, der groß und schlaksig war, hinter den anderen, konnte aber in seinem Gesicht keine Regung erkennen, und er hatte Fragen, so viele, und wusste, dafür war hier kein Platz. Aber für seine Fragen war noch nie Platz gewesen. War es das Land, war es die Zeit, war es die Familie gewesen, hatte er die falschen Fragen gestellt?
«Was ist mit den anderen?», rief er dennoch und achtete darauf, sie nicht seine Freunde zu nennen. «Sie hatten nichts damit zu tun. Alexander Grigorjewitsch Ljubimow hat nichts damit zu tun. Ich habe ihn dahin geschleppt, es ist meine Idee gewesen», was sie ja auch war. Sascha hatte Bedenken geäußert, vielfältiger Art, mehrfach. Sascha hatte nachdrücklich gesagt, und hatte er das nicht selbst gewusst, dass es gefährlich werden würde, anders gefährlich als sonst.
«Ruhe im Saal.»
Er wollte etwas tun, musste etwas tun, irgendetwas. Er setzte sich hin, schrieb «Entschuldigung» in Riesenlettern, hätte das Blatt am liebsten hochgehalten für Frank, er müsste es auch von dort hinten lesen können, vielleicht könnte er noch weitere Zettel schreiben, Nachrichten an seine Familie, sie Frank irgendwie übergeben, er musste etwas tun, wo war Sascha, was würde seine Mutter, wie würde seine Nichte, irgendetwas, da kam der Glatzkopf mit den Handschellen auf ihn zu. Er hielt den Kugelschreiber noch in der Hand, den wollte er eigentlich rechtzeitig einstecken, für später, für die Zelle, für Perm- 36 , es war zu spät. Es machte «Klack», als der Glatzkopf den Kugelschreiber zurück auf den Tisch fallen ließ. Zeichnen würde ihm beim Überleben helfen, und überleben würde er, das war klar.
Der Glatzkopf führte ihn an allen vorbei zur Tür hinaus, sie guckten alle, starrten, er sah Neugierde und Abscheu und Mitleid und Fragen und Trauer in den Augen der Menschen, die gekommen waren, um ihn
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