Die Listensammlerin
Appetit, bevor es dann unweigerlich kam: «Na dann, erzähl!» (Von deinem Leben, deiner Reise, deinen Freunden, deinem Studium, deinen Plänen, deinem Alltag, deinem Freund und so weiter.) Keine Fragen, nur dieser Befehl, und die leuchtenden Augen dazu, wie die eines Kindes, das gleich seine Lieblingszeichentrickserie zu sehen bekommt. Neben ihr Frank, lächelnd, wartend, froh, dass jemand anderes für ihn den Fernseher anknipste. Ich bat sie um Fragen, um einen Dialog, erklärte ihr das «Di», aus dem Griechischen, ein Zwiegespräch, und wenn es schlecht lief für sie, dann sagte ich nur, dass ich kein Fernseher sei, und löffelte auch meine Suppe nicht auf oder tat es schweigend oder verließ auch mal wütend den Raum, dabei hatte ich mich in Indonesien oder den USA oder einfach nur Hamburg sehr auf sie gefreut. Heute war Frank der Fernseher gewesen, er hatte sein Programm abgespult und erzählt, und dass er noch wusste, dass ich da war, merkte ich erst am Schluss, als er mich doch ansprach:
«Ist alles ein bisschen viel für dich, Sofia, nicht wahr?»
Meine Mutter hatte mich Sofia genannt nach der Frau von Lev Tolstoj, Sofja Andrejewna Tolstaja, mein Vater, erzählte sie, hatte mich Anna nennen wollen. Einmal hatte Frank zu mir gesagt, wäre ich seine leibliche Tochter gewesen, hätte er keinen besseren Namen für mich finden können als den einer so bedeutenden, leider unterschätzten Frau. (Und daraus wurde ein Vortrag über das Leben von Sofja Andrejewna Tolstaja, für den ich zu jung war, weshalb ich mir nur merkte, dass sie sechzehn Kinder zur Welt gebracht hatte.)
Ich antwortete Frank nicht, weil es mir tatsächlich zu viel war, aber auch zu wenig, weil ich den Begriff «Dissident» nur schwer einordnen konnte, weil ich immer überzeugt gewesen war, meine Mutter habe nur ein Kind haben wollen, weil sie selbst ein Einzelkind war (so sehr hatte ich sie und Frank um ein Geschwisterchen angefleht), weil keiner mir gesagt hatte, dass Frank meinen Vater gekannt hatte, weil ich nur ganz wenig von all dem, was ich da hörte, verstand. Frank streichelte mir unsicher über die Wange, wir wussten beide nicht weiter und starrten beide das Foto an. Es war schwarzweiß und hatte ausgefranste Ränder, ich dachte sofort an Flox, der zerfledderte Bilder liebte und sammelte, er kaufte auf Flohmärkten alte Alben von Leuten, die er gar nicht kannte, und bewahrte sie in einem Umzugskarton auf, den er abends manchmal durchstöberte, wenn ich an meinen Listen schrieb (und in diesen Momenten liebte ich ihn besonders, weil er dann ein wenig so war wie ich). Der Mann auf dem Foto trug eine Schirmmütze über dunklen Locken und lachte, sein Mantel war etwas zu lang, er stand im Schnee, und sein Lachen und die Locken, die sich unter der Mütze hervordrängten, als weigerten sie sich, von etwas so Banalem wie einer Kopfbedeckung gebändigt zu werden, und die Arme, die er provozierend vor der Brust verschränkt hielt, erinnerten mich irgendwie an: mich.
Als hätte Frank meine Gedanken gelesen (und hätte der Ausdruck nicht bereits auf meiner Liste der «Redewendungen, die auch wörtlich genommen einen Sinn ergeben» gestanden, hätte ich ihn jetzt notieren müssen), sagte er: «Er lächelt wie du», und diese Feststellung schien ihn sehr zu freuen.
Erinnerungen kamen mir, die erst jetzt einen Sinn ergaben. Meine Großmutter, die dagegen war, dass ich demonstrieren ging, aus Gründen, die sie mir nie erklären wollte. Meine Mutter, die neben Tolstoj-Memorabilia Zeitungsartikel über russische Zwangsarbeitslager sammelte, mit einer Begründung, die einfacher nicht hätte sein können: «Interessiert mich einfach.» Frank, der mir die Frage, warum er seine Dissertation nicht wie geplant in der Sowjetunion abgeschlossen hatte, nie richtig beantwortete. Die Abneigung meiner Großmutter gegen die Fotografie. Der Hass meiner Mutter auf ihre frühere Heimat. Frank, der sie «errettet» hatte. Ich holte meinen Notizblock heraus, begann eine neue Liste, Frank betrachtete das Foto, meine Listen hatten ihn im Gegensatz zu meiner Mutter noch nie gestört.
Im Heim saß natürlich auch Lieschen/Lottchen mit am Tisch, heute nannte sie sich Frau Wägle und fragte mich, ob ich ihre beste Freundin sein wolle, sie fragte genau so: «Willst du meine beste Freundin sein?», woraufhin Frau Neitz, die neben mir saß, mein Handgelenk umfasste, mit mehr Kraft, als ich ihr zugetraut hätte. «Lassen Sie das Vöglein in Ruhe, sie ist für mich da, nicht
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