Die Listensammlerin
er war selten nervös, aber oft gelangweilt. Die Hände lagen bewegungslos da, wie schlafend, als würden sie sich, losgelöst vom Körper, etwas Ruhe gönnen. Er zwang sich, von den Händen aufzusehen, in die Runde zu blicken, seine Augen trafen Alissas, sie lächelte, er lächelte automatisch zurück. Dann führte er seinen Blick zur rauen grauen Wand, grau die abblätternde Farbe, grau auch das Darunter, der Wandgrund, oder wie man das nannte, er konzentrierte sich darauf, nach dem richtigen Wort zu suchen, dachte an seinen Vater, genau, der Kalksandstein. Das Haus stand kurz vor dem Abriss und leer, solange es aber noch stand, konnten sie sich hier treffen, reden, diskutieren und planen und auch trinken, Hasenkopf hatte es ausfindig gemacht. Er zählte langsam bis zehn … acht, Pause, neun, Pause, zehn, erst dann erlaubte er seinem Blick wieder, nach links und herunter, Richtung Tischplatte, zu wandern, weiter die ruhenden Hände zu betrachten. Schön. Schlicht schön.
Ihm war bewusst, dass andere – seine Freunde, sein Bruder, sein Vater – diese Hände, diese Männerhände nicht betrachteten, nicht auf diese Weise. Dass ihnen diese Hände noch nicht einmal auffallen würden, jeder hatte Hände, Hände und Arme und Füße, solange keiner dieser Körperteile fehlte … Kriegsveteranen fehlten manchmal Hände, manchmal halbe oder ganze Beine, die schaute man an, wenn auch unauffällig. Darum bemühte er sich auch gerade, weshalb er den Blick immer wieder abwendete, zum Redner blickte, zur grauen Wand, bis zehn, bis zwanzig zählte oder das Alphabet im Kopf aufsagte, vorwärts oder rückwärts, bevor sein Blick sich wieder in den Händen verlor. Schmale, schöne, gerade Finger (seine eigenen kleinen Finger standen zur Seite ab, und auch der mittlere Finger der linken Hand war nach oben hin leicht schief), gerade Finger mit gefeilten Fingernägeln, die dennoch kräftig wirkten, die Hände eines Mannes. Er hätte gerne über diese Hände gestreichelt, auch über den Schorf am Arm. Er hätte gerne nach den Kratzern gefragt, vielleicht könnte er das später machen, in der Pause, wenn Penkin vielleicht aufgehört hätte zu reden, Penkin, der viel redete, aber nie etwas Neues sagte, ohne Humor, aber mit großem Geltungsbedürfnis, er mochte Penkin nicht, weder mochte er ihn, noch fand er seine Hände schön. Er hätte genauso gut in die Vorlesung gehen können, hatte er gedacht, als er sah, dass Penkin heute reden würde, er sollte sich ohnehin gelegentlich an der Universität blicken lassen, das hatte er sich fürs Studium fest vorgenommen, es sollte nicht wie an der Schule sein. Wenn Penkin mit dem Reden aufgehört hätte, würde er den Jungen neben sich vielleicht um eine Zigarette bitten, vor ihm auf dem Tisch lag ein angebrochenes Zigarettenpäckchen, er würde sich draußen neben ihn stellen, direkt neben ihn, weil es regnete und der andere einen Regenschirm dabeihatte, während er seinen vergessen hatte, genau genommen hatte er nie einen dabei. Und dann würde er nach den Kratzern fragen, beiläufig, als würde er sie erst in jenem Moment bemerken, wenn sie im Regen zusammen eine rauchen würden. Er blickte wieder nach oben, in die Runde, Alissa starrte nun Penkin an, sichtlich genervt, dafür lächelte Regina ihn an. Er lächelte zurück, sie fuhr sich durch ihre dunklen Locken, die sie heute offen trug. Er nickte in Richtung Penkin, verdrehte die Augen und seufzte theatralisch, sie zog die Mundwinkel noch weiter nach oben, mehr lächeln ging aus dehnungstechnischen Gründen des Mundes nicht.
Sein Bruder hatte jetzt eine feste Freundin, sie hieß Antonia, alle nannten sie Toscha, und alle warteten auf die Hochzeit oder zumindest deren Ankündigung. Der Vater sparte schon Geld, das sagte er offen und laut: «Das lege ich beiseite für die Hochzeit», für wessen Hochzeit, brauchte er nicht zu erwähnen, auch seine Mutter legte nach Möglichkeit ein Extraglas Gurken und Marmelade und Tomaten ein für das große Fest. Der Bruder sagte nichts von einer Hochzeit, aber als die Mutter ihm die vielen eingelegten Gurkengläser gezeigt hatte – Gurken gab es en masse in diesem Jahr –, da hatte er ihr dankbar über die Schulter gestrichen und gesagt: «Na, dann können die Gäste kommen, zu essen haben wir genug!» Die Mutter hatte gestrahlt. Antonia war ein nettes Mädchen. Keine Schönheit, aber auch nicht unangenehm anzusehen, blondes Haar, blaue Augen, ein etwas pummeliges Gesicht, auch wenn sie ansonsten
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