Die Listensammlerin
sitzen wir aber in diesem Café in Paris und fühlen uns alle drei fehl am Platz. Meine Großmutter, weil sie ungern Cafés besucht. Sie trinkt keinen Kaffee, sie trinkt Tee, nach dem Essen, um den Mund zu spülen, wie sie sagt, sie muss dazu nicht in ein Café. Meine Mutter fühlt sich fehl am Platz, weil sich meine Großmutter fehl am Platz fühlt und weil das Kaffeetrinken ihren ehrgeizigen Plan, den sie mit Hilfe von fünf Reiseführern für uns zusammengestellt und fein säuberlich aufgeschrieben hat (in Klammern die ungefähren Aufenthaltszeiten an jeder Sehenswürdigkeit, in jedem Museum daneben gesetzt – und meine Listen hält sie für verrückt!), zu unterlaufen droht. Ich fühle mich fehl am Platz, weil ich mit zwei Frauen in einem wunderschönen kleinen, leichten, französischen Café in Paris sitze, meinen Kaffee genüsslich zu schlürfen und, nachdem er ausgetrunken ist, noch sitzen zu bleiben und einfach nichts zu tun gedenke, und die zwei Frauen das so gar nicht verstehen und mir, ehrlich gesagt, bereits seit vorgestern auf den Senkel gehen. Der Streit ist vorprogrammiert, wir haben ihn bislang nur erfolgreich hinausgeschoben.
«Also, wir schaffen nicht mehr beides heute», erklärt meine Mutter, die ihren Plan studiert und dabei verzweifelt den Kopf schüttelt, als läse sie ihr eigenes Todesurteil. «Wir können nicht zum Friedhof Montmartre und zur Sacré-Cœur und danach in den Louvre. Wir können entweder das eine oder das andere machen. Vielleicht, wenn wir uns nur die Basilika Sacré-Cœur anschauen und den Friedhof weglassen …»
«Mama, genieß doch jetzt erst mal den Kaffee und die Pause und konzentrier dich nicht schon wieder auf den nächsten Programmpunkt.»
«Ich genieße ja. Ich trinke und genieße meinen Kaffee, der mir übrigens sehr gut schmeckt, und überlege gleichzeitig, was wir als Nächstes machen.»
«Ich will zum Friedhof!», sagt meine Großmutter grimmig, die sich sonst nicht zum Programm äußert, sondern von allem begeistert ist.
«Warum?»
«Montmartre ist doch da, wo Dumas begraben liegt, oder? Da will ich hin.» Sie wechselt ins Russische, blickt bestimmt zu meiner Mutter, schließt mich aus. Ich verstehe viel, aber nicht alles, und wenn Großmutter so spricht, dann tut sie es, um mit meiner Mutter zu sprechen, «nicht vor dem Kind».
Ich frage, auf Deutsch, versteht sich: «Warum interessiert dich das Grab von Alexandre Dumas?»
«Warum, darum», kommt auf Russisch zurück. Und dann wieder zu meiner Mutter: «Wir fahren zu diesem Friedhof. Den lassen wir nicht weg.»
Russisch, holte Frank gerne aus, so eine schöne, bildreiche Sprache, es folgte meist ein langer, ebenfalls bildreicher Monolog über russische Metaphern, Stilmittel, Wortspiele und Symbolik. Meine Großmutter und meine Mutter benutzten diese bildreiche Sprache, ohne Bilder zu verwenden, um mich zum Schweigen zu bringen.
«Warum musst du unbedingt zu diesem Friedhof?»
«Er hat Dumas vergöttert.»
Meine Mutter wirft mir einen hastigen Blick zu, den «Nicht vor dem Kind»-Blick, der zu der bildreichen russischen Sprache passt, in die sie immer dann mit Großmutter verfiel, wenn sie meinte, mir ebendiesen Blick zuwerfen zu müssen, danke, ich habe kapiert. Sie studiert noch einmal den Stadtplan, den sie mit ihrer Tabelle abgleicht. «Wir können natürlich auch sagen, dass wir heute zum Friedhof gehen und zur Basilika und uns dann noch die Gegend um das Moulin Rouge anschauen, das ist ohnehin in der Nähe. Dann hätten wir vielleicht morgen Zeit für den Louvre, direkt nach dem Picasso-Museum. Ja, so kriegen wir es hin!»
«Wer hat Dumas vergöttert?»
Und bevor meine Großmutter auch nur Luft holen kann, sagt meine Mutter: «Sie. Großmutter vergöttert Dumas. Bis heute. ‹Die drei Musketiere›. ‹Der Graf von Monte Christo›. Weißt du doch.»
Nein, weiß ich nicht.
«Sie sagte doch ‹er›. Großmutter, du sagtest doch: ‹Er hat Dumas vergöttert.›»
«Nein», sagt Großmutter auf Deutsch.
«Nein», echot meine Mutter. Zensur bedarf nicht vieler Worte.
«Aber ich habe es doch gehört.»
«Du hast dich verhört. Sie sagte ‹ich›. Was hast du nur!»
Später spazierten wir über den Cimetière de Montmartre, etwas besser gelaunt als im Café, aber noch immer angespannt, und meine Großmutter ließ sich vor dem Grab von Alexandre Dumas fotografieren, den sie ach so sehr verehrte, so wie sie sich vor dem Grab von Stendhal, Heinrich Heine und La Goulue, einer
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