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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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Cancan-Tänzerin, die ihr erstaunlicherweise etwas sagte und mir nicht, hatte fotografieren lassen. Ich versuchte, dem keine Bedeutung beizumessen, nicht dem Nein, nicht dem «er», nicht Alexandre Dumas.
     
    Erinnerung fünf: «Nur kein Grischenka soll es werden, um Gottes willen kein Grischenka», sagt Großmutter immer wieder kopfschüttelnd, um nach einem verlorenen Blick in die Ferne plötzlich ihre Meinung zu ändern: «Wenn du Glück hast, dann wird es ein Grischenka!» Diesen Satz sagte sie jedes Mal, wenn sie mich sah, manchmal mehrmals. Es war der einzige Satz, der erahnen ließ, dass sie wahrnimmt, was um sie herum geschieht, nämlich dass mein Bauch wächst, zu einer Größe, die mich mit jedem Tag mehr ängstigt. Wer oder was ein Grischenka sein soll, ist mir ein Rätsel. Wenn ich sie frage, antwortet sie selbstverständlich nicht, sondern starrt mich an, als spräche ich eine Fremdsprache, was ich aus ihrer Sicht vielleicht sogar tue, mit als Erstes hatte die Krankheit sich der deutschen Sprachzellen in ihrem Kopf angenommen. Manchmal antwortet sie, wenn ich wissen will, wer denn Grischenka sei, mit einer Gegenfrage: «Habe ich schon gegessen?» Sie sprach damals noch in vollständigen Sätzen und lallte minimal. Das Thema Essen beschäftigte sie trotz Alzheimer sehr.
    Einmal sagt sie nur: «Nu, weißt du nicht, wer Grischenka war? Weißt du das wirklich nicht?», und als ich schnell entgegne: «Nein, ich habe keine Ahnung!», um den klaren Moment auszunutzen, aber vielleicht hat es diesen Moment auch gar nicht gegeben, da sagt sie: «Ich habe keinen Hunger mehr.»
     
    Erinnerung sechs hängt mit Erinnerung fünf zusammen und ist vielleicht fünfeinhalb: Ich beschließe, meine Mutter zu fragen. Sie gießt gerade Hühnersuppe in eine Tupperschüssel, damit ich sie Großmutter mitbringen kann bei meinem nächsten Besuch im Altenheim, daneben wartet eine zweite Schüssel, die Suppe für Flox. Er isst sie gern. Großmutter isst schon lange nichts mehr gern.
    «Als ich letzte Woche bei Großmutter war, da hat sie, glaube ich, realisiert, dass ich schwanger bin.»
    Es fiel mir nicht leicht, das zu sagen, weil ich nicht gern über meine Schwangerschaft sprach. Ich fühlte mich unwohl, permanent. Nicht im Sinne von Übelkeit, unter der ich ebenfalls litt, sondern im Sinne von: Kann mich bitte jemand aus diesem Körper befreien? Es war mir ein Rätsel, wie andere Frauen Schwangerschaften schön finden konnten, wie man Schwangere schön finden konnte, ich schämte mich fast ein wenig, schwanger zu sein. Flox lachte mich aus, er fand mich schön, sagte er, während ich mit jedem Monat immer seltener in den Spiegel sah, bis ich ihn am Schluss gar nicht mehr bemerkte und einfach gegen ihn lief und mir einmal den kleinen Zeh brach.
    Besonders ungern sprach ich mit meiner Mutter über die Schwangerschaft, ich steckte, obwohl ich ja dabei war, selbst Mutter zu werden, was die Beziehung zu meiner Mutter betrifft, noch immer in der Pubertät: Je mehr sie etwas interessierte, desto mehr verweigerte ich mich, desto mehr zog ich mich zurück. Die Schwangerschaft interessierte meine Mutter sehr. Sie wollte meinen Bauch streicheln, das wollten im Übrigen auch Fremde auf der Straße, einmal sprach mich eine Frau im Park an, dabei mochte ich es noch nicht einmal, wenn Flox das tat. Meine Mutter wollte wissen, wie oft sich das Kind bewegte und wann, ob mir das Treppenansteigen schwerfiel oder das Schuhebinden und ob mir immer noch manchmal übel war, aber übel wurde mir erst, wenn sie mich das fragte.
    Ich frage trotzdem.
    «Ach ja? Woran hast du gemerkt, dass sie weiß, dass du schwanger bist?» Ihre Begeisterung hält sich in Grenzen, womit ich hätte rechnen können. Meiner Großmutter gegenüber verhielt sich meine Mutter fifty-fifty: An manchen Tagen klammerte sie sich an jedes Blinzeln, sah darin Anzeichen für eine Geistesgegenwärtigkeit, die schon vor Jahren verloren gegangen war, sie jammerte, wenn sie kein Blinzeln zu sehen bekam, an dem sie sich festklammern konnte, sie nahm Großmutters geistige Abwesenheit persönlich. «Sie hat mich noch nicht einmal angeschaut. Sie hat nicht gelächelt, sie hat nicht einmal in meine Richtung geschaut. Ich habe ihr trotzdem Suppe gegeben!», sagte sie dann, und ich ärgerte mich leise, am meisten über mich selbst, weil ich Großmutter keine Suppe kochte.
    An anderen Tagen war sie kühl und distanziert wie ein Arzt und fällte Urteile mechanischer als diese. «Kein Fieber

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