Die Listensammlerin
mehr, sie ist aus ihrem Rollstuhl aufgestanden und zum Tisch gelaufen, recht stabil. Ich gehe davon aus, dass sie trotz des Sturzes wieder laufen können wird – als Hauptfortbewegungsmittel. Vielleicht wird sie eine Gehhilfe brauchen. Gegessen hat sie nicht viel, aber zum Weiterleben genug. Auf die Trinkmenge muss man dieser Tage achten, dazu hatten die Schwestern heute kaum Zeit, denn heute war Maltag. Was soll sie malen, sie vegetiert nur vor sich hin. Mit Alzheimer malt man nicht, da starrt man die Bilder an den Wänden an und sieht sie noch nicht einmal.» Sie hatte mit jedem Wort recht, und dennoch tat mir jedes Wort weh. Frank wohl auch, er zuckte zusammen, wenn sie wie eine Ärztin sprach, eine ohne Herz. (Aber auf meine Liste der herzlosen Ärzte konnte ich sie nicht setzen, weil sie de facto keine Ärztin war.)
«Ich habe es ihr erzählt, und sie hat meinen Bauch angeschaut und was dazu gesagt. Sie hat erkannt, dass es ein Schwangerenbauch ist.» Das habe ich tatsächlich gesagt. Zu meiner Mutter. Flox wäre stolz auf mich.
«Sie kann das nicht erkannt haben. Ihr Alzheimer ist zu weit fortgeschritten. In ihrem Gehirn befinden sich zu viele senile Plaques und fibrilläre Ablagerungen, die eine adäquate Reaktion verhindern.» Meine Mutter schmiss gerne mit solchen Begriffen um sich, wenn sie wie eine Ärztin sprach. «Ihr Gehirn ist gar nicht fähig dazu», diagnostiziert sie für mich in Laiensprache. Und fügt dann, etwas mütterlicher, hinzu, indem sie auf meinen Bauch zeigt und zum Glück dem Drang widersteht, ihn zu streicheln: «Ich weiß, wie sehr du dir wünschst, dass sie von ihrem Urenkelkind erfährt, Dotschenka. Das wünschen wir uns alle. Aber dazu ist es leider zu spät. Sie hätte sich sehr gefreut.»
Ich hasste es, wenn meine Mutter mich so nannte. Dotschenka. Töchterchen. Sosehr ich mich über jedes russische Wort freute, das meiner Mutter herausrutschte und das nichts mit Lev Tolstoj zu tun hatte, so sehr hasste ich diesen Kosenamen. Töchterchen, als sei ich allein dazu auf der Welt, ihren Lebenszweck zu erfüllen, damit sie eine Tochter hatte. Es war nur ein Gefühl, eine Mutmaßung, eine Unterstellung, die mich dennoch erdrückte.
«Es geht nicht darum, was ich mir wünsche. Sie hat auf meinen Bauch geschaut und gesagt, dass es bloß kein Grischenka werden soll. Und eine Sekunde später, dass es hoffentlich ein Grischenka wird.»
Ich beobachte das Gesicht meiner Mutter, die mir gegenübersitzt, sie hat die Tupperschüssel mit der Hühnersuppe abgestellt und trinkt nun ihren abgekühlten Tee, sie hat einen Keks in der Hand, über ihr hängt Tolstoj, ein schwarzweißes Poster von Tolstoj in seinem Esszimmer, Frank hatte es vergrößern lassen und ihr zum Geburtstag geschenkt, sie lehnt sich nach vorne, ich sauge jede ihrer Bewegungen auf, um keine Veränderung in den Gesichtszügen, in ihrer Sitzhaltung, in den Schwingungen ihrer Stimme zu verpassen, und schaut zu mir auf. Sie versteckt ihre Hände unter dem Tisch und sagt: «Was genau hat sie über Grischa gesagt?»
«Dass das Baby kein Grischenka werden soll. Oder eben doch.»
«Also was jetzt?» Die Hände unter dem Tisch, das Kinn mir entgegengestreckt, die Augen aufmerksam, wie ein Fuchs auf der Pirsch.
«Erst das eine, dann das andere.»
«Und hat sie noch was gesagt?»
«Nein.»
«Sonst nichts? Nichts über Grischa? Nichts über dein Baby?» Die letzte Frage fügt sie wie einen Nachgedanken hinzu, wie um mir zu zeigen, dass es um mein Baby ging, um nichts sonst. Oder interpretiere ich wieder zu viel?
«Sonst nichts. Wer ist denn Grischa? Was hat sie gemeint?»
Noch während ich diese Frage stelle, nimmt meine Mutter ihre Hände unter der Tischdecke hervor, führt den Keks zum Mund, nimmt den Teelöffel auf, sobald der Keks in ihrem Mund verschwunden ist, und rührt unnötig im Tee, in den sie niemals Zucker oder Milch tut.
«Ich weiß es nicht. Jemand, den sie kannte, wahrscheinlich. Wenn man Alzheimer hat, dann sterben Neuronen ab, und die Hirnmasse wird kleiner. Sie lebt nicht im Hier und Jetzt. Sie erinnert sich an Dinge und Menschen von früher, bringt alles durcheinander. Es ergibt keinen Sinn.»
«Das weiß ich. Aber weißt du, ob sie einen Grischa kannte? Kennst du einen?»
«Nein.» Sie steht auf und geht zum Kühlschrank, macht ihn auf und wieder zu, bleibt mit dem Rücken zu mir stehen. «Ich sollte vielleicht schon mal Nudelwasser aufsetzen, Frank kommt gleich und hat sicher Hunger.» Ein anderer
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