Die Listensammlerin
Sonne eigentlich zu hell schien, und ich daran erkannte, woran er gerade dachte, und schon begannen die Vorwürfe und die Schuldzuweisungen. Wir hörten erst im Flugzeug auf zu streiten, als das Meer und der Strand, den wir inzwischen fürchteten und hassten, weit genug weg schienen, als wir nur noch Himmel und Wolken sahen, da schob Flox vorsichtig seine Hand unter Annas Rücken hervor, die auf seinem Schoß tief und fest schlief und im Schlaf laut schnaufte (wir würden den Herzspezialisten aufsuchen, sobald wir zurück waren, hatten wir beschlossen), er nahm meine Hand und sagte: «Mich schüttelt’s immer noch, wenn ich daran denke», und ich wusste sofort, wovon er sprach, aber diesmal warf ich ihm nichts vor und fühlte mich nicht angegriffen, sondern streichelte mit meinem Daumen über seinen Handrücken und sagte: «Jetzt geht’s ja nach Hause, da gibt es keinen Strand!», als hätten wir alle anderen Gefahren dieser Welt und auch die eigentliche Gefahr, die uns quälte, damit hinter uns gelassen, am Strand liegen gelassen wie ein Handtuch oder eine Schaufel.
Ich hatte als Erste bemerkt, dass Anna nicht da war. Ich legte mein Buch beiseite, setzte mich auf und sah sie – nicht. Ich sah Flox neben mir auf dem Bauch liegen, so liegen, dass ich dachte, er hätte sie im Blick, was ich ihm später vorwerfen würde, und als ich sie nicht sah, drehte ich mich um und erwartete, sie dort unter ihrem weißen Sonnenhut mit der breiten Krempe zu entdecken, den sie den ganzen Urlaub über trug. «Ut», sagte sie, eines ihrer ersten Wörter überhaupt, wir lachten jedes Mal, wenn einer von uns ihr den Hut zuband und sie begeistert nach oben blickte, sich auf das Lob freute, «Ut». Ich sah keinen Krempenhut, ich sah keine Anna, auch nicht links und rechts von mir, und sprang auf, drehte mich im Kreis und rief: «Wo ist Anna?», so laut und aufgeregt, dass nicht nur Flox aufsprang, sondern auch die Frau auf dem Handtuch links von uns, ich suchte und suchte und sah sie nicht. Und weil ich sie nicht sah und nicht wusste, was es zu bedeuten hatte, aber wusste, wie schnell Anna, mit dem weißen Sonnenhut und sonst nur noch einer Windel, krabbeln konnte, wenn sie wollte, auch wenn sie dabei schnaufte, als sei das Krabbeln harte Arbeit, weil ich wusste, wie schnell sie war, wenn sie zum Meer wollte, ließ ich mich wieder fallen, ließ mich plumpsen, wie sie sich plumpsen ließ, wenn sie die ersten Schritte übte und nicht mehr konnte, rückwärts auf das Handtuch, wo ich sitzen blieb, als sei ich gar nicht da.
«Wo ist Anna?», sagte ich noch einmal, diesmal kaum vernehmlich, zu niemandem eigentlich, denn Flox war schon davongeeilt, rannte zum Meer und schrie: «Anna», er kreischte fast, die Tonlage zu schrill und zu hoch für die Stimme, die ich als Flox’ Stimme kannte, während ich sitzen blieb und ihm zusah, als wären wir einander fremd, als wüsste ich nicht, wer die Anna ist, die er sucht, und sah ihm zu. Flox rannte umher in seiner blauen Badehose mit seinem nassen Haar, mehrmals auch an mir vorbei, wobei er mich nicht wahrnahm, weil er den Sand absuchte, nach einem weißen Sonnenhut mit breiter Krempe und einem kleinen Mädchen darunter, einem Mädchen, das nur mit einem halben Herzen auf die Welt gekommen war und deshalb bereits jetzt zwei schwere Operationen hatte ertragen müssen, aber so lächeln konnte, dass man laut lachen wollte. «Anna», es war mehr ein Brüllen als die Stimme von Flox, der stets mit einem Hauch Ironie sprach, der, selbst wenn er wütend wurde, selten laut wurde, zumindest nie so laut wie ich.
«Anna», riefen nun auch Menschen um uns herum, die wir nicht kannten, sie suchten nun auch den hellen Sand ab, und manche von ihnen sprachen Flox an, wollten etwas von ihm wissen, wahrscheinlich, wie sie aussehe, diese Anna, ob sie seine Tochter sei oder seine Frau, seine Freundin, seine Schwester, aber er blieb nicht stehen, um ihnen von dem weißen Sonnenhut mit der breiten Krempe zu erzählen, von der Schwimmwindel mit dem Delphin darauf, von den blonden Locken, die verklebt waren von Sand und Wasser. Ich bekam ganz plötzlich und wie immer in kritischen Momenten das Bedürfnis, eine Liste zu schreiben. Mein Notizblock lag neben mir, ich legte ihn mir auf die Knie und wusste, das würde verwunderte, vielleicht abgestoßene Blicke nach sich ziehen, aber Flox würde das hinnehmen, und schrieb auf eine leere Seite
«Liste von Menschen, die Flox beim Suchen helfen»
und darunter:
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