Die Listensammlerin
dieser Tortur in meinem Kopf nicht alleine fühlte. Das warf ich ihm nun vor, dass er sich die Sorgen nur für mich, nur pro forma mache, was ihn zu verletzen schien, was mich wiederum freute, nicht, weil ich mich freute, wenn Flox verletzt war oder wenn ich die Macht hatte, ihn zu verletzen, sondern weil ich sonst nicht sehen konnte, wann oder wie er sich Sorgen machte. Regelmäßig warf ich ihm seine Nonchalance vor, jedes Mal schien er verletzt, und jedes Mal freute ich mich und schämte mich der Freude ein wenig, und dieses Gespräch wiederholten wir ein-, zweimal die Woche, bis Flox irgendwann auf den Tisch haute: Können wir nicht einen Abend bitte über etwas anderes sprechen, ich kann das nicht mehr hören, ich kann, kann, kann nicht mehr (jedes «kann» ein Schlag, bei dem die Katze wie ich zusammenzuckten), was ich sehr gut verstand. Wir schwiegen uns an jenen Abenden ein wenig an, nicht beleidigt, sondern einfach jeder für sich, ich las, und er schaute fern, er las, und ich nahm ein Bad, oder ich schaute fern, und er ging ins Kino. Wenn wir dann später im Bett lagen, sagte Flox nichts, aber er brachte mir meist mein Wasserglas und stellte es auf den Nachttisch, weil ich nachts oft durstig aufwachte, oder er nahm einfach nur meine Hand oder rutschte unter meine Decke, sodass wir ganz nah nebeneinander schliefen, Waffenstillstand. Nebeneinander lagen wir, bis pünktlich wie ein Wecker um zwei Uhr Anna, die keine Zeiten kannte und den Sinn einer Uhr nicht erfasste, hereintapsen würde, taps, taps, hörte man sie, wortlos, ihren Bären im Arm, um genau in der Mitte auf unser Bett zu klettern und hochzukrabbeln, wo sie den Kopf zwischen die Kissen steckte wie ein Vogel den Schnabel unter seinen Flügel und sofort wieder einschlief. Ab zwei Uhr schlief ich schlechter, weil sie sich im Schlaf bewegte und drehte und um sich schlug und meine Decke wegzog, und wir schliefen beide besser, weil sie bei uns lag und laut atmete, lauter als Flox, lauter als ich, lauter als wir zusammen, aber sie atmete. Ihr Herz schlug.
Einmal hatte Flox sich Sorgen gemacht, im Urlaub in Griechenland, Anna war dreizehn, vierzehn Monate alt und krabbelte begeistert im Sand herum, meist Richtung Meer, einer von uns lief immer hinter ihr her, sie war schnell und liebte das Wasser und hatte keine Angst vor den Wellen. Wenn sie nicht Richtung Meer krabbelte, aß sie den Sand, nach zwei Tagen war es uns zu anstrengend geworden, sie davon abzuhalten, wir sagten nur noch ironisch: «Guten Appetit.» Es ging uns gut. Wir waren bereits seit zehn Tagen da und hatten eine Art Routine entwickelt, frühmorgens ein schnelles Frühstück und an den Strand, später, wenn es zu heiß wurde, ins Hotel, wo Anna und Flox Mittagsschlaf machten und ich eine Runde im Pool schwamm oder las oder an meiner Liste «Warum Pauschalurlaub schlimm ist» arbeitete und mir vornahm, am nächsten Tag etwas anderes als Listen zu schreiben, dann wieder an den Strand, zum Abendessen verließen wir das Hotel und liefen ins Dorf, Anna in einer Trage auf Flox’ Rücken, die anderen Hotelgäste ertrugen wir nicht und wollten zumindest kurz das Gefühl haben, wir reisten wie früher, doch auch im Dorf sahen wir nur Touristen, und wenn Anna schlief, saßen wir auf dem Balkon und tranken Wein und lasen und redeten und lachten, es ging uns gut in dieser Routine, bis zu dem einen Morgen, an dem Anna verschwand und Flox suchte, suchte und suchte, nach Anna suchte, so wie ich seit Monaten im Internet nach einem medizinischen Wundermittel suchte oder nach etwas, das die Ärzte tun könnten, während Flox also genau das tat, was ich mir wünschte, war ich, als sei ich nicht anwesend, obwohl ich doch genau da war, wo er auch war, am Strand, an dem Anna verschwand (und wiedergefunden wurde). Den Rest des Urlaubes stritten wir darüber, wer schuld war, wer von uns kurz nicht hingeschaut oder nicht aufgepasst hatte oder in seinem Buch oder in seiner Zeitschrift versunken war, wir stritten uns, während wir nun zu zweit auf sie aufpassten, obwohl wir eigentlich verabredet hatten, uns abzuwechseln, eine Stunde du, eine Stunde ich, wir passten nun auf, ob der andere auch gut auf sie aufpasste. Es passierte immer wieder, nachdem wir eine Sandburg für sie gebaut oder gebadet oder gerade gegessen hatten, dass es mich bei dem Gedanken noch einmal schüttelte und Flox sofort wusste, warum es mich schüttelte, dass er sein Buch auf der Brust ablegte und einfach in den Himmel starrte, an dem die
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