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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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Ausdruck für: «Das Gespräch ist hiermit beendet.» Die Muttersprache meiner Mutter ist nicht Russisch, es ist die Sprache der Augenwischerei. Wie der Begriff schon sagt, die hat sie von ihrer Mutter gelernt.

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    Neuntes Kapitel
    Der Sommer war ganz plötzlich und unbemerkt in den Herbst übergegangen, oder ich hatte es nur nicht bemerkt. Mir war, als seien die Bäume von einem Tag auf den anderen, eines Morgens, als ich aufgewacht und aus dem Fenster geschaut hatte, bunt gewesen, als hätten sich das Gelb und das Rot und das Orange nicht langsam herangeschlichen, sondern schlagartig das Territorium übernommen, als hätte das Grün widerstandslos seinen Platz geräumt, als hätte es eingesehen, was ich an jenem Morgen, an dem ich aufgewacht war und aus dem Fenster geschaut hatte, sagte: «Es ist ja Herbst!» – «Hebst», sagte Anna seitdem immer und zeigte aus dem Fenster, und auch wenn ich ihr dann die bunten Blätter zeigte, erst die auf den Bäumen und dann, nur wenige Tage später, auf dem Boden, war ich mir nicht sicher, ob sie tatsächlich verstand, was «Hebst» denn war. Wie erklärt man einem Kind die Jahreszeit, einem Kind, das nicht in Zeiträumen denkt, das keinen Unterschied kennt zwischen «morgen, wenn du aufstehst» und «wenn du groß bist»? Wie erklärt man so etwas, fragte ich mich, seit Annas Lieblingswort «Warum?» war, und staunte über die Selbstverständlichkeit, mit der ich und alle anderen, die größer sind als Anna, unsere Welt hinnahmen. Wie erklärt man eine Farbe, fragte ich mich, während wir die Straße entlangliefen und ich sie mit dem Benennen von Farben davon abzuhalten versuchte, alle paar Schritte stehen zu bleiben, einen Stock aufzuheben, einen Zigarettenstummel aufheben zu wollen, an einem Gartentor zu rütteln, Menschen hinterherzuschauen, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, um in jedes Schaufenster zu blicken und dann jedes der dort ausgestellten Dinge einzeln zu benennen: «Brille, Brille, Brille, viele Brillen, Ball.» Auch solche Aufzählungen warfen Fragen auf, bei ihr das «Warum?» und bei mir die großen Fragen über unser Leben, unsere Welt, unsere Zivilisation, die Konsumgesellschaft: Warum schmückte der Optiker sein Schaufenster mit Bällen, Medizinbällen, Basketbällen, Fußbällen, Volleybällen, Tennisbällen, was hatten Bälle mit Brillen zu tun? Warum meinte ein Optiker, wir würden eher eine Brille, einen Gebrauchsgegenstand kaufen, wenn er sie neben einem Ball platzierte? Ich staunte über die Welt nicht weniger als Anna, ich führte nun eine «Wie erklärt man einem Kind, dass …?»-Liste.
    «Grünes Auto, rotes Auto, schwarzes Auto, noch ein schwarzes Auto, oh, und schau mal da, ein blaues Auto wie unseres», kommentierte ich vor mich hin, damit es voranging, «Plau», wiederholte Anna und zeigte darauf und übersah den Hund, den wir passierten, ich atmete auf, zwei Minuten gespart, wir mussten uns schließlich beeilen. Immer mussten wir uns beeilen, schon seit Tagen schafften wir es nicht mehr, die bunten Blätter zu sammeln oder Kastanien, die ich ihr auch noch zeigen wollte. Nie war Zeit. Und immer hatte ich Angst, es bleibe uns auch keine Zeit.
    Flox sagte, er denke nicht so, aber einmal sagte er auch, er denke nicht daran, und ich biss mich an diesem Wort fest. Ich machte ihn auf den feinen Unterschied zwischen «so» und «daran» aufmerksam, und als er verständnislos tat und mir Wortklaubereien vorwarf, wenn ich so gerne mit Worten spiele, warum schreibe ich da nicht, da sagte ich tatsächlich: «Daran wie an ihren Tod?» Er schwieg. «Warum reden wir überhaupt drum herum?», fragte ich, als mir das Schweigen zu laut wurde, da nahm er das «daran» zurück und ersetzte es wieder durch ein «so» und wollte über meine Wortklaubereien nicht diskutieren. Dann sagte er noch, dass ich, wenn ich tatsächlich Angst hätte, es bleibe keine Zeit, ebendiese nicht mit ewig wiederkehrenden Gesprächen über jene Angst vertun solle, und das nahm ich ihm übel, und wir sprachen ein paar Stunden nicht miteinander und gingen wortlos ins Bett. Am nächsten Tag machten wir weiter wie zuvor, weil auch zum Streiten nie Zeit blieb, zwei Tage später aber quälte es mich wieder, und alleine hielt ich das nicht aus, also begann ich erneut damit, es bleibe uns keine Zeit. Flox sagte, er denke nicht so.
    Im Übrigen mache er sich auch Sorgen, sagte er und betonte das «auch», als mache er sich die Sorgen für mich, damit ich mich mit

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