Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
Vom Netzwerk:
Mann, kaum Haare, blaue Speedo-Badehose
    • junge Frau, mollig, langer Pferdeschwanz, weißer Bikini mit blauen Blümchen
    • Pärchen, das vorher wild geknutscht hat, Mitte zwanzig, beide sehr braungebrannt, sehr hübsch
    • ein weißhaariger Mann, 40 – 50  Jahre, der mit seinem jugendlichen Sohn da ist (Sohn sucht nicht mit)
    und machte so weiter und achtete auf Rechtschreibung und Zeichensetzung und darauf, niemanden zu vergessen, bis nur noch die Liste zählte und sonst nichts.
    Als ich aufblickte, sah ich, wie Flox durchs Wasser lief, es reichte ihm bis zum Knie, und er blickte abwechselnd von links nach rechts, vom schmalen Wasserstreifen rechts von sich auf den endlosen links neben sich. Seine Stimme wurde immer schriller, ich hörte sie zwischen all jenen anderen, die auch umherrannten und «Anna» riefen. Dazwischen hörte ich nun andere Namen, und ich sah Eltern und Großeltern, die ihre Kinder zu sich riefen und an sich drückten, und jeder von ihnen war zweifellos froh, nicht Flox zu sein. Ich zwang mich, wieder an die Liste zu denken, weiterzuarbeiten, bis mich jemand ansprach: «What does she look like?», und ich sah auf zu der Frau, die ich gerade beschrieben hatte («Frau im schwarzen Sportbadeanzug, große schicke Sonnenbrille, rote Locken; Locken und Brille passen nicht zum Badeanzug»), und als ich deshalb auflachte, wich sie einen Schritt zurück. «Do you want something to drink?», fragte sie, warum bieten die einem in schwierigen Situationen immer was zu trinken an, im Krankenhaus hatten die mir auch immer Wasser angeboten, als helfe Wasser nicht nur gegen Durst und Dehydrieren, sondern auch gegen Trauer, Schmerz, Schock oder den möglichen Verlust eines Kindes, «No, thanks». Und dann erzählte ich ihr von dem Hut, der Schwimmwindel und den blonden Haaren, und sie nickte und eilte los, als wüsste sie nun, wo sie hinmüsse.
    Wie lange dauerte die Suche, wie oft musste Flox «Anna» rufen, was mich mit der Zeit – wie viel Zeit? – ärgerlich machte, das bringt doch nichts, dein Geschrei, wollte ich ihm sagen, aber dazu hätte ich aufstehen müssen, wie oft echoten die anderen «Anna», ein Name, den Menschen aus aller Herren Länder sofort wiederholen konnten, wie praktisch. Wie lang dachte ich so, als schaute ich den anderen zu wie in einem Film? Wie oft kontrollierte ich, ob ich auch alle aufgenommen hatte, die ich rennen und rufen sah, immerhin schrieb ich drei Seiten voll? Wie lange, bevor jemand laut «Look» rief und Flox in die Richtung des «Look» sprintete, so schnell, als hätte er sein Leben lang dafür trainiert. Ich warf mein Notizbuch beiseite, rannte hinterher, und bevor ich Flox und den Mann erreichte, der «Look» gerufen hatte, und die blau-orange Strandmuschel, an der er stand, sah ich, wie Flox sich auf die Knie warf und ein Kind mit einem weißen Sonnenhut mit breiter Krempe hochhob und an sich drückte. Den ganzen Urlaub schon hatte Anna Strandmuscheln spannend gefunden, sie hielt sie für kleine Spielhäuser, in denen man sich verstecken konnte. Wir hatten keine Strandmuschel dabei, weil wir uns für zu cool hielten, also untersuchte sie die Heringe der fremden Strandmuscheln oder krabbelte hinein, wovon wir sie abzuhalten versuchten, damit sie die uncoolen Besitzer nicht störte, auch wenn diese meist sagten, es mache nichts, sie sei ja so süß. Plötzlich hörte ich ein hemmungsloses Schluchzen, das die Sorge hinausspülte wie Wellen die Quallen und Algen ans Ufer spülten. Flox schluchzte, während er Anna an sich drückte, und so wie die Menschen vorher in seine «Anna»-Rufe eingestimmt hatten, schluchzten sie nun mit (später würde ich diese Szene auf meine Liste «Filmreife Szenen aus meinem Leben» schreiben). Ich weinte jetzt auch, ich stürzte mich auf Flox und Anna, die ich küsste, und sie wand sich um und schaute mich fragend an, als wären ihre Eltern nicht ganz dicht. Ich lachte und weinte, ich war nun wieder zurück, von wo auch immer ich gewesen war, und Flox weinte nur, ohne zu lachen.
    Nun warf ich Flox vor, er mache sich keine Sorgen, zumindest nicht wie damals am Strand. Der Sommer war ganz plötzlich in den Herbst übergegangen, den ich gefürchtet hatte, vielleicht hatte ich seine Ankunft deshalb nicht bemerkt. Ich hatte gehofft, der Sommer würde noch lange währen, weil ich wusste, dass ewig nicht ging, denn der Herbst würde einen Tag näherbringen, den ich mir weit wegwünschte. Es waren noch fünf Tage bis zur OP , und Flox schien

Weitere Kostenlose Bücher