Die Listensammlerin
ich im Taxi saß, fasste ich wieder einen klaren Gedanken.
Der da war: Meine – Großmutter – war – weggelaufen. Keiner wusste, wie sie entwischt war. Man, also das diensthabende Pflegepersonal, ahnte, dass es irgendwann nach dem Schlafenlegen gewesen sein musste (meine Mutter hatte tatsächlich vom «Schlafenlegen» gesprochen, und dass mir diese Kleinigkeiten auch jetzt noch auffielen, mitten in der Nacht, dass sie mir auch jetzt noch einen Stich versetzen konnten, wo doch etwas viel Größeres im Leben meiner Großmutter passierte). Aufgefallen war es auch nur, weil die Tür zu ihrem Zimmer offen gestanden hatte, die Tür, an dem ein Foto von ihr hing, auf dem sie schon leicht verwirrt lächelt und einen Blumenstrauß in den Händen hält, ohne genau zu wissen, warum (Geburtstag, der achtundachtzigste), ein Foto, auf dem sie im besten Fall, so hoffte die Heimleitung oder der Heimarzt oder der Heimpsychologe, sich und damit ihr Zimmer erkennen konnte (sie landete trotzdem meist im Zimmer von Frau Neitz, die oft Besuch bekam, weil ihr Zimmer das erste im Flur war). Das Foto nahm sie noch nicht einmal zur Kenntnis, wenn ich mit dem Finger darauf zeigte und fragte, wie ich auch Anna beim Anschauen von Bilderbüchern nach Hunden und Kühen fragte: «Na, wer ist das?», und bevor die Stille zu laut wurde, selbst antwortete: «Schau mal, das bist ja du! Und so einen schönen Blumenstrauß hältst du in der Hand!» Keiner wusste, warum oder wohin sie weggelaufen war. Die Polizei wusste nicht, wo sie mit dem Suchen anfangen sollte. Ich versuchte, sie mir vorzustellen, meine Großmutter, die im Nachthemd und Hausschuhen (hatte sie welche angezogen, konnte sie das noch, Hausschuhe selbst anziehen?) die Straße entlanglief, mit ihren unsicheren Schritten, den Blick immer nach vorn gerichtet, auch wenn sie häufig nichts vor sich sah, weshalb sie gegen Türen und Ecken stieß, und draußen nun gegen was – Autos, Laternen, Litfaßsäulen? Das Heimgelände hatte sie verlassen, das Zauntor stand sperrangelweit offen, die Automatik war offensichtlich defekt, und als der Defekt entdeckt wurde, von der Polizei, also zu spät, hatte um zwei Uhr vierundfünfzig mein Telefon geklingelt, weil meine Mutter fand, dass es nun doch an der Zeit war, mich zu informieren. Ich stellte mir Frank vor, wie er meine Mutter zu beruhigen versuchte, mit seiner tiefen, sanften Stimme auf sie einredete, irgendwo werde sie schon sein, vielleicht im Westflügel, den suche die Polizei noch ab, man würde sie gleich finden, und nein, lass Sofia und Florian noch schlafen, sie können nichts tun. Es ist derzeit nicht leicht für sie, lass sie noch. Ich kramte in meiner Umhängetasche, ein Schnuller, Taschentücher, zwei Müsliriegel, der neue John Irving, irgendwo musste es sein, und holte mein Notizbuch heraus.
Für die Liste «Filmreife Szenen aus meinem Leben»:
• Großmutter irrt in Nachthemd und Hausschuhen irgendwo herum
• Frank beruhigt Mama im Heim, während die Polizei (mit Spürhunden?) um sie herumwuselt
Für die Liste «Wann man sich spätestens Sorgen machen muss»:
• wenn das Telefon nachts um 2 . 54 Uhr klingelt
Eins, zwei, drei, vier. Die Kombination des Altenheims war so einfach, dass sogar Anna sie schon kannte. Eins, zwei, drei, vier. Sowohl von innen als auch von außen dieselbe, ein weißes Zahlenschloss wie bei einem Hotelsafe, aber schicker, mit Digitalanzeige und einer Schlüsseltaste, die rot und grün leuchten konnte. Meine Großmutter ist ein Back- und ein Zahlengenie gewesen (gewesen, obwohl sie noch lebt), Backen und Zahlen waren ihre Leidenschaft, und meine gesamte Schulzeit über bedauerte sie, dass ich ihre Zuneigung zu den Zahlen nicht geerbt hatte (eher backte ich noch mit ihr). Langweilte ich mich als Kind bei langen Autofahrten, bat sie mich, aus den Ziffern einer Telefonnummer eine Hundert zu errechnen, indem ich zum Beispiel die erste Ziffer mit der zweiten multiplizierte und die nächsten zwei addierte, um dann die dritte abzuziehen und so weiter. Meine Großmutter behauptete, wenn man lange genug am Ball bleibe, ließ sich aus fast allen Telefonnummern eine Hundert errechnen. Ich war schon mit der Aufgabe überfordert und von der Vorstellung, endlose Rechnungen auszuführen, noch mehr gelangweilt als von der Autofahrt. Was für mich meine Listen sind, waren für Großmutter die Zahlen, und jedes Mal, wenn ich die Eins-zwei-drei-vier-Schlüsselkombination eingab, erst unten am Tor, dann hinterm
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