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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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hätte er seinen Durst verdrängt und erkenne nun plötzlich, was ihn die ganze Zeit gequält hat. Gequält sah er aus. Meine Mutter wirkte nervös, überfordert und einfach müde, und weil sie nichts mit sich anzufangen wusste, begab sie sich zur Küchenzeile und half der netten asiatischen Pflegerin dabei, die Spülmaschine auszuräumen, und da ich ebenso wenig wusste, was nun zu tun war, setzte ich mich zu Frank an den Holztisch. Darauf waren Malspuren, Wasserfarben und Wachsmalkreide, als stünde er in einem Kindergarten und nicht in einem Altenheim.
    «Was glaubst du, wo sie ist?», fragte ich Frank, der einen Moment zu brauchen schien, bevor er erfasste, wovon ich sprach.
    «Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, dass sie ein Ziel hat. Wahrscheinlich ist sie einfach losgelaufen. Sie kennt ja die Gegend hier auch nicht, das heißt, selbst wenn sie irgendwohin wollte, wüsste sie nicht, wie sie hinkommt.» Und er fügte, als wäre die Information neu und interessant für mich, hinzu: «Die Polizei sucht sie.»
    «Ich weiß.»
    Frank nickte und schwieg, und seine Finger spielten mit dem leeren Glas, und als ich fragte, ob er noch mehr Wasser wolle, da schüttelte er den Kopf und ließ seine Hände fallen.
    «Ich weiß, dass sie sich hier nicht auskennt und nicht gezielt irgendwohin geht. Ich dachte ja nur, dass sie vielleicht, als sie losgelaufen ist, irgendwohin wollte. Nach Hause vielleicht. Oder zu uns», begann ich erneut.
    Ich hatte «zu uns» gesagt und mein Elternhaus gemeint, nicht «zu euch». Was auch Frank auffiel, der den Kopf hob und mit dem rechten Mundwinkel die Andeutung eines Lächelns wagte. «Schon möglich.»
    Er machte eine Pause, die ich als Zeichen nahm, dass er gar nicht reden wollte, ich überlegte kurz, ob ich meiner Mutter vielleicht dabei helfen sollte, der Pflegerin zu helfen, die inzwischen über die schon längst saubere Spülablage wischte.
    «Vielleicht wollte sie aber auch zu dem Haus, in dem sie aufgewachsen ist, oder in das Haus, in dem sie ihre Kinder großgezogen hat», fuhr Frank fort. «Oder zur Arbeit. Oder zum Einkaufen. Oder in einen Luftschutzbunker. Oder zu ihrer Mutter. Wir wissen nicht, in welcher Zeit sie sich gerade in ihrem Kopf befand.»
    «Vielleicht dachte sie, sie müsse einen Kuchen backen.»
    «Vielleicht auch das.»
    Später setzte sich meine Mutter zu uns, zwischen uns, um genau zu sein, und legte ihre rechte Hand auf Franks und die linke auf meine, die ich nicht schnell genug weggezogen hatte. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie sprach. «Wir bekommen das hin. Als Familie. Wir sind eine Familie. Und Florian. Und unsere kleine Anna natürlich.» Ich widerstand dem Drang, aufzuspringen und selbst noch einmal über die Spülablage zu wischen, alles, nur nicht das, und vielleicht ging es Frank ähnlich, weil er nur «Ja» murmelte, seine Hand wegzog und aufstand und sich auf den Weg Richtung Toilette machte. Verräter, dachte ich, und dann dachte ich noch, dass er doch ihr Mann war, dass er sie doch nicht so erbärmlich finden dürfte wie ich, ich dachte tatsächlich erbärmlich und schämte mich sogleich und fragte sie deshalb, wie es ihr denn ginge.
    «Wie soll es mir schon gehen? Wir können nur eins tun, wir können nur beten. Beten und warten. Was bleibt uns anderes übrig?»
    Meine Mutter war überzeugte Atheistin, im Land der Lenin-Stalin-Götter aufgewachsen, und auch Frank war kein Kirchgänger, weshalb ich mir nicht sicher war, ob sie in den letzten Stunden der Angst zu einem Glauben gefunden hatte oder das Beten nur als Redewendung benutzte, so wie sie nach über dreißig Jahren in Deutschland so manche Wendung übernommen hatte, aber nicht immer an der richtigen Stelle einsetzte und ab und zu auch auf komische Weise veränderte (weshalb ich seit meiner Jugend die «Liste der ver[schlimm]besserten Redewendungen meiner Mutter» führte).
    Frank kam erstaunlich lange nicht wieder, ich blickte um die Ecke in den Flur und sah ihn nicht und fragte meine Mutter, ob sie nicht nach ihm sehen wollte, sie sprang auf, als hätte sie ihn vergessen, und beeilte sich, zu ihm zu kommen, froh, etwas zu tun zu haben, oder vielleicht voller Sorge, weil sie ihren Mann vergessen hatte. Es war inzwischen fast fünf Uhr morgens. Ich nahm alles wie durch einen Nebel wahr und war zu müde, um mich müde zu fühlen. Ich checkte mein Handy, aber Flox hatte sich nicht gemeldet, er schlief bestimmt. Ich war mir kurz unsicher, ob ich mir mehr Anteilnahme von ihm wünschte,

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