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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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Aufzug, dann an der richtigen Wohnungseinheit, fühlte ich mich im Namen meiner Großmutter persönlich angegriffen. Dass man sich nicht einmal die Mühe machte, sich eine kompliziertere Zahlenkombinationen auszudenken, um sie und die anderen Alten vom Weglaufen abzuhalten (Großmutter hatte es geschafft, und auch wenn ich mir schwer vorstellen konnte, wie, so gefiel mir die Vorstellung, dass sie die Zahlenkombination erraten oder sich gemerkt hatte). Eins, zwei, drei, vier, ich musste es laut wiederholt haben, weil der Taxifahrer plötzlich zu mir blickte, gleichzeitig die Lautstärke herunterdrehte und «Wie bitte?» fragte. Ich machte mir nicht die Mühe zu antworten, schüttelte nur den Kopf.
    Dafür, dass meine Großmutter weggelaufen war wie ein Welpe, den man von der Leine gelassen hatte, war es ziemlich ruhig im Heim. Nachts war ich noch nie an diesem Ort gewesen und erschrak ein wenig, weil das Gelände – das Tor stand immer noch sperrangelweit offen, wahrscheinlich würde morgen ein Mechaniker kommen – verlassen wirkte. Im Krankenhaus war auch nachts immer etwas los gewesen, jemand eilte über die Gänge, jemand kam, jemand ging, und wenn ich nicht schlafen konnte, dann lief ich durch verschiedene Stockwerke und hielt nach all diesen Menschen Ausschau, nicht, um mit ihnen zu sprechen, sondern um jemanden zu sehen. Oder um Anna und Flox nicht zu sehen, die friedlich schliefen, Anna bei Flox im Arm, auf dem Schaukelstuhl, den die nette, sehr große, sehr füllige polnische Kinderkrankenschwester uns von irgendwoher angeschleppt hatte, einhändig. Sie schliefen friedlich, Vater und Tochter, wenn da das Schnaufen nicht gewesen wäre, nicht das Schnaufen, nicht die Schläuche, nicht das piepende Gerät, nicht dieser Ort, dessen Geruch kein Shampoo und kein Duschgel abwaschen konnte, auch nach Tagen nicht. Das Heim aber war des Nachts wie verlassen. Durch die verglasten Fenster im Gang konnte ich auf meinem Weg in vier Wohnungseinheiten blicken, in denen ich überall Licht, aber keine Menschen sah und aus denen ich nichts hörte, noch nicht einmal Ralf und sein Geschrei. Ich beeilte mich, zur Wohnungstür der «Schwalben» zu kommen – meine Großmutter, eine Schwalbe, auch Frau Neitz und Herr Peitle und Ralf Schwalben – und Eins-zwei-drei-vier-Schlüssel zu drücken, weil die Schwalbenwohnung, so wusste ich, nicht verlassen sein würde, weil dort die Menschen wären, die auf meine Großmutter warteten.
    Meine Mutter hatte Augenringe und leicht zitternde Hände, mit denen sie mich an sich zog, aber Frank war es, der aussah, als sollte er sich setzen und ein Glas Wasser bekommen: Grünlich und blass zugleich, eingefallene Wangen, die Haare ungewohnt ungekämmt, und – an dem Licht konnte es nicht liegen, da es hell und nicht zu grell war – er sah aus, als wäre er um Jahre gealtert, im wahrsten Sinne des Wortes (noch so eine Redewendung für meine Liste, dachte ich mir und hatte das dringende Bedürfnis, das sofort zu notieren, traute mich aber wegen meiner Mutter nicht, mein Notizbuch aus der Tasche zu holen, weshalb ich es in mein Handy tippte – Handys fand meine Mutter besser als Listen: Für die Liste «Redewendungen, die auch wörtlich genommen einen Sinn ergeben»: um Jahre altern).
    Eine Polizistin, die einzige im Raum – von Spürhunden, die ich mir vorgestellt hatte, war ebenso wenig eine Spur wie von den wuselnden Polizisten aus der filmreifen Szene in meinem Kopf –, stellte ihre Kaffeetasse ab, gab mir die Hand und stellte sich vor, wobei ich ihren Namen sofort wieder vergaß. Der Direktor des Heims sprach in einer Ecke auf die drei anwesenden Pflegerinnen ein, Jutta, die Asiatin und eine, die ich nicht kannte, die wohl nur Nachtschichten machte. Er sprach engagiert, aber so gedämpft, dass ich ihn reden sah, aber nicht hörte, er drehte sich nicht einmal um, als ich hereingekommen war, obwohl das Tür-ins-Schloss-Fallen die Stille zerstörte, und auch später stellte er sich mir nicht vor. Er nickte in Richtung meiner Mutter, bevor er den Raum verließ und die Tür wieder laut ins Schloss knallte. Der Arzt war wohl schon gegangen, weil die Person, die er hätte behandeln oder zumindest stillstellen sollen, nicht da war, und auch niemand ahnte, wo sie war, weshalb er ruhig noch ein paar Stunden schlafen konnte.
    Ich brachte Frank dazu, sich zu setzen, und holte ihm ein Wasserglas, obwohl er sagte, das sei nicht nötig. Aber als das Glas vor ihm stand, da trank er es in einem Zug aus, als

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