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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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gleich los, «Mama geht es nicht gut. Überhaupt nicht gut. Sie ist kraftlos, müde, sie hält das alles nicht mehr aus. Und ich dachte, vielleicht sollten wir sie mit ein paar positiven Gefühlen versorgen, damit sie auch mal etwas Schönes erlebt, sieht, dass es auch Schönes im Leben gibt.» Grischa machte eine Pause, gab ihr die Chance, einen Vorschlag zu machen, sie schwieg, das Misstrauen wich ihr nicht aus dem Gesicht, seit sie die Tür geöffnet und ihn erblickt hatte. Ihm ging es beim Blick in den Spiegel in letzter Zeit oft ähnlich, er nahm es ihr also nicht übel.
    «Ich dachte», und er nickte zum Säugling hin, «an ihn.» Und er lächelte Timoschka an und verzog das Gesicht noch einmal, große Augen, kleiner Mund, Grimassenschneiden, sagte Sascha immer, sei sein eigentliches Talent (Talent, erwiderte er jedes Mal, sei übertrieben, jahrelange Übung stecke in jeder dieser Grimassen). Timoschka verzog die Lippen, ganz sicher sollte es ein Lächeln werden. Toscha drehte ihn so, dass er an ihrer Schulter lag und seinen Onkel nicht mehr sehen konnte.
    Dann also anders.
    «Warum magst du mich nicht?», fragte er, weil er wusste, dass Überraschungen jemandem wie Toscha sofort den Wind aus den Segeln nahmen.
    Es tat ihm manchmal leid, dass er sich so vielen so schnell überlegen fühlte, aber wenn er es denn war?
    «Was? Das ist nicht so.» Sie schindete Zeit.
    «Das ist nicht so?» Toscha war einfach, so einfach. Er schaute ihr direkt in die Augen und schätzte: fünf, höchstens fünf Sekunden, bis sie den Blick abwenden würde.
    «Das ist nicht so.» Drei, vier, sie stand auf, ach, er war einfach zu gut. Sie drehte sich zum Herd. «Willst du einen Tee?»
    Er zwinkerte Timoschka zu, der alles verstand, bevor er aufsprang und sich vor den Herd stellte, sodass Toscha gezwungen war, ihn wieder anzusehen.
    «Ich will keinen Tee. Auch keinen Kaffee. Ich will nur wissen, warum du mich nicht magst.»
    «Ich mag dich nicht nicht.»
    «Du magst mich nicht nicht?»
    «Nein.»
    «Was dann?»
    Diesmal hielt sie seinem Blick stand. «Ich habe Angst vor dir.»
    «Du hast Angst vor mir? Warum?»
    «Du bist so … Du bist so unberechenbar. Ganz anders als Andrej. Du bist … Ich weiß nicht, was du bist. Dir ist alles egal. Du denkst deine eigenen Gedanken. Andrej sagt, und Mama sagt das übrigens auch, dass du dich mit gefährlichen Leuten herumtreibst. Du bist so … wie niemand sonst. Das gefällt mir nicht.»
    «Wäre es dir lieber, ich wäre wie alle anderen?»
    «Was ist schlecht daran? Was ist schlecht daran, wie alle zu sein? Andrej sagt, immer wenn du verschwindest, immer wenn du nachts nicht heimkommst, sitzt Mama die ganze Nacht in der Küche und wartet auf dich. Sie weint. Die ganze Nacht weint sie. Wusstest du, dass sie mehr wegen dir weint als wegen deines Vaters? Wusstest du das? Sascha sagt …»
    Er wich zurück.
    «Sascha? Du hast mit Sascha gesprochen?»
    «Wir haben alle mit Sascha gesprochen. Weil Sascha da ist. Alle sind da. Nur du bist es nicht. Wo treibst du dich herum? Dein Vater ist krank, schwer krank. Wo bist du? Sascha ist bei deinem Vater. Wir alle sind bei deinem Vater.»
    Er hätte widersprechen können, weil das nicht stimmte, sie war auch nicht da, um Timoschka nicht dem schwerkranken Großvater auszusetzen. Er schwieg. Es hätte keinen Sinn, ihr die Wahrheit zu sagen, sie würde es Andrej erzählen, und Andrej würde es seiner Mutter erzählen oder eben nicht, um sie zu schonen, verstehen würde es niemand, wie auch. Grischa schwieg, sie sollte glauben, er denke nach. Vier, fünf, sechs, beige Kacheln in der Küche, das sah nicht schlecht aus, wo hatten sie die her? «Ich habe zu tun. Darf ich nichts zu tun haben?»
    «Aber was hast du zu tun? Du studierst, aber dann studierst du doch nicht. Dann studierst du was anderes, dann arbeitest du im Theater, aber nicht als Schauspieler, dann bist du beim Metzger, und du fotografierst, und jetzt willst du im Sommer in einer Imkerei arbeiten. Wer bist du? Weißt du das denn selbst?»
    Die letzte war eine gute Frage. Er zuckte mit den Schultern. «Ich bin nicht Andrej.»
    «Nein.»
    «Ich bin eben so.»
    «Ja, du bist so.»
    «Was hat Sascha gesagt?»
    «Nichts. Er hat nur gesagt, dass er auf dich aufpasst. Er hat gesagt, dass du Ideen hast. Und dass er auf dich aufpasst.»
    «Das hat er gesagt?» Grischa lachte auf. Er mochte Sascha. Er liebte Sascha (nicht wie er Sergej liebte, aber er liebte ihn). Aber: Sascha brachte kein Wort heraus, wenn

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