Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
Vom Netzwerk:
fragte sie jeden Tag. Und immerhin, seinem Vater zuliebe, und erst recht seiner Mutter zuliebe, die zentimetertiefe Augenringe hatte und schon seit drei Wochen, seit sein Vater ins Krankenhaus gekommen war, nichts mehr gebacken hatte, verkniff Grischa sich eine für Nikolaj Petrowitschs Frau angemessene Antwort.)
    Der Tod stank also bestialisch, und während das schummrige Licht zumindest im Zimmer seiner Eltern blieb, klebte der Geruch des Todes überall, er strömte aus den Gardinen hervor, breitete sich in seinem Zimmer aus, das erleichternd leer wirkte, seit Andrej da nicht mehr wohnte (dafür war seine Schwester aus dem Zimmer ihrer Eltern aus- und bei ihm einquartiert worden, aber das war immer noch besser als sein Bruder), auch in den beiden Zimmern ihrer Kommunalka-Mitbewohner hing der Geruch. In der Küche schaffte es weder der Geruch der eingelegten Salzgurken noch der des Apfelkuchens noch der des Borschtschs, ja nicht einmal der des täglichen Knoblauchbutterbrots, das Nikolaj Petrowitsch zu sich nahm, um Viren «von vornherein den Garaus zu machen», den Geruch des Todes zu übertünchen, im Bad nicht der von Seife, auf der Toilette nicht der von Exkrementen, obwohl es da unerträglich stank, weil das Badezimmer kein Fenster hatte (vor allem, nachdem die Frau von Nikolaj Petrowitsch es aufgesucht hatte). Der Geruch klebte an Grischa, auch wenn er unterwegs war, er klebte an seinem Wintermantel, seiner Pelzmütze, seinen Schuhen, wahrscheinlich auch an seiner Haut, bestimmt war der Geruch in seine Haut eingezogen, aber das konnte er nicht überprüfen, weil er sich außerhalb von zu Hause, wo alles stank, nicht auszog. Erst hatte er gedacht, er sei der Einzige, der das rieche, seine Nase habe Halluzinationen, er hatte einmal gelesen, dass Hungernde im Krieg Gerichte riechen konnten, von diesen Gerüchen gar mitten in der Nacht wach wurden. Er versuchte es umgekehrt, den Geruch wegzudenken. Bis nach einer Woche – der Vater lag im Bett, und seine Mutter hatte es bereits aufgegeben, ihn anzuflehen, aufzustehen und in die Küche zum Essen oder ins Bad zum Waschen zu gehen – Anastasia ihn eines Nachts auf den Geruch ansprach. Er dachte, sie schlafe schon, er lag bäuchlings auf seinem Bett und hatte die Bibliothekspläne vor sich ausgebreitet, die er mit Hilfe einer Taschenlampe studierte.
    «Hör mal?»
    «Ja?»
    «Riechst du das auch?»
    «Was?» Er faltete die Pläne zusammen, weil er Sascha versprochen hatte, seine Schwester aus dieser Sache herauszuhalten, und im Gegenzug hatte Sascha ihm versprochen, über den großen Plan tatsächlich nachzudenken, ohne ihn würde das alles nichts werden.
    «Diesen komischen penetranten Geruch. Seit Papa zurück ist. Ich habe das Gefühl, er ist überall.»
    Grischa nickte und ging davon aus, dass sie sein Nicken im Schein der Taschenlampe sehen konnte. Er wusste nicht, was er antworten könnte, weil er wusste, dass sie ihren Vater liebte. Es war gut, dass jemand ihn liebte.
    «Hörst du?»
    «Ja?»
    «Ich glaube, das ist der Geruch des Todes.»
    Er drehte sich nicht zu Anastasia um, stopfte nur die säuberlich gefalteten Pläne in seine Ledertasche und schob sie unters Bett.
    «Wahrscheinlich. Schlaf jetzt. Ich mach auch gleich das Licht aus.»
    «Sag mal?»
    «Ja?»
    «Stört dich der Geruch nicht? Macht er dir gar nichts aus? Mir macht er Angst.»
    «Schlaf jetzt, Anastasia. Gute Nacht.»
    Sie hatte ihm leidgetan, als er hörte, wie sie sich herumwälzte, lange noch. Als er morgens aufwachte, kam es ihm vor, als habe er sie nachts, irgendwann, im Halbschlaf, weinen gehört, gedämpft, als würde sie ins Kissen weinen, um ihn nicht zu wecken. Grischa war sich nicht ganz sicher, ob er sich das nicht nur einbildete, ob er das nicht geträumt hatte, aber trotzdem kaufte er an jenem Tag auf dem Heimweg Blumen, die ersten Mimosen in diesem Jahr, und überreichte sie ihr mit der Behauptung, Sascha habe ihm den Strauß für sie mitgegeben. Er musste jetzt nur noch daran denken, Sascha darüber zu informieren, damit der nicht zu stammeln begann, wenn sie sich bei ihm bedankte. Er seufzte, gerade solche Dinge vergaß er oft, und Sascha war wirklich ein hoffnungsvoller Fall, was Mädchen (und Menschen im Allgemeinen) anging.
    Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Grischa sich selbst Seife gekauft, auf der Packung stand «Lavendelseife», er hatte den Geruch damit abzuwaschen versucht, und als es nicht funktionierte, warf er die Seife in den Müll, damit seine Mutter nicht

Weitere Kostenlose Bücher