Die Listensammlerin
Bus, Trambahn, Trolleybus fahren und längere Strecken laufen, vielleicht einen ganzen Tag lang, um Toscha, seine Tanten, seine Onkel, Kollegen und Freunde zu informieren? Er schüttelte den Kopf, sowohl als Antwort auf Toschas unausgesprochene Frage als auch bei der Vorstellung. Natürlich würde er es tun, seiner Mutter, nicht seinem Vater zuliebe, der nicht mehr sein würde, aber sie würde ihn sicher nicht schicken – oder doch?
«Aber was machst du dann hier?», fragte Toscha misstrauisch.
«Ich wollte mit dir reden.»
«Worüber?» Und bevor er antworten konnte, fügte sie hinzu: «Sag’s mir einfach, wenn du es sagen musst.»
Er schüttelte noch einmal den Kopf. «Ehrlich nicht. Ich wollte mit dir reden. Er ist am Leben.»
Er sprach es tatsächlich aus, und Toschas Augen vergrößerten sich, als sei es ihr unangenehm, war es ihm ja auch, ein wenig, dabei sagte er nur die Wahrheit. Er wollte nicht jemand sein, der Angst vor der Wahrheit hatte.
«Ich wollte mit dir über meine Mutter reden», erklärte er.
«Über Mama?» Toscha nannte seine Mutter Mama, sie hatte bei der Hochzeit damit angefangen, und jedes Mal zuckte er zusammen, weil er es nicht verstand. Toschas eigene Mutter lebte noch, weit weg zwar, in Jakutsk, achttausend Kilometer weit weg, aber sie lebte. Grischa hatte seine Mutter beobachtet, wenn Toscha sie «Mama» nannte – es störte sie nicht. Sie schien sich auch nicht übermäßig zu freuen, sie nahm es hin, so wie sie auch hinnahm, dass er, sein Bruder und seine Schwester sie Mama nannten. Er konnte sich nicht vorstellen, eine andere Frau so zu nennen. Er hatte das aufgeschrieben auf die Liste gesellschaftlicher Regeln, die er nicht verstand. Die Liste wurde beinahe täglich länger.
«Komm rein!» Toscha lief voraus Richtung Küche, Timoschka, den Kleinen, im Arm. Immerhin ließ sie ihn herein. Grischa schloss die Tür hinter sich, zog die Schuhe aus, obwohl sie ihm keine Hausschuhe angeboten hatte, hängte seine Jacke auf, folgte ihr.
Timoschka war gewachsen, er hatte Haare bekommen und starrte ihn unverhohlen an. Er streckte dem Kleinen die Zunge heraus und verzog die Lippen zu einer absurden Grimasse, hob die Hände und schob sie hinter seinem Hinterkopf hervor, als seien ihm Hasenohren gewachsen, und knabberte mit den oberen Schneidezähnen an seiner Unterlippe wie an einer Karotte. Timoschka starrte ihn an, als wäre er das Sonderbarste, was er je gesehen hatte, vielleicht auch das Wunderbarste, und die Chancen standen ganz gut, dass dem so war. Timoschka sah nicht viel von der Welt, meist sah er nur seine Eltern, meist sogar nur seine Mutter. Toscha passte auf, dass Timoschka nicht viele Menschen zu sehen bekam, der Viren wegen. Regelmäßig sah er vielleicht noch Toschas Tante, bei der die Kleinfamilie lebte, das war es auch schon. Die wenigen Male, die er Timoschka begegnet ist, war der Kleine so eng in Decken und Tücher eingewickelt, dass man kaum sein Gesicht erahnte, und er wunderte sich, weil er meinte, dass auch ein kleiner Mensch seine Arme und Beine bewegen möchte, er wunderte sich und sagte das laut, wie immer, er würde es wohl nie lernen. Die anderen – seine Mutter, seine Schwester, Toscha, sein Bruder sogar, auch Toschas Tante und Toschas Mutter – hatten laut gelacht. Toschas Mutter hatte die ersten drei Monate bei Toscha und seinem Bruder gelebt und sich mit um Timoschka gekümmert. Zwei Frauen für ein kleines Kind, hatte er sich gewundert und auch das gesagt, schon vor der Geburt, noch bevor Toschas Mutter für drei Monate angereist war, und seine Mutter hatte geseufzt, als verstünde er nichts, und sie hatte recht, von Kindern verstand er wirklich nicht viel (aber sie mochten ihn, und er mochte sie). Das hatte auch seine Schwester gesagt, dass er nichts von Kindern verstehe, als er gefragt hatte, ob der Kleine nicht vielleicht zu eng in diese Decken eingewickelt sei. Daran musste er jetzt denken, dass er von Kindern nicht viel verstand – auch wenn er fand, dass Timoschka so aussah, als hätte er nichts dagegen, zu ihm auf den Arm zu kommen, in die Luft geworfen, vielleicht gekitzelt zu werden und den Hasen näher kennenzulernen. Er mochte den Kleinen, diese großen blauen Augen, er mochte alle Kinder. Er fragte nicht, weil er die Antwort im Voraus kannte. Er kam gerade aus einem Trolleybus und hatte sicher Viren mitgebracht, außerdem hielt Toscha nicht viel von ihm. Er hätte Timoschka wirklich gern auf den Arm genommen.
«Mama», legte er also
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