Die Listensammlerin
fragte, woher die kam und warum er sie gekauft hatte. Seine Mutter fragte wenig in den letzten Wochen, was ihn hätte erleichtern müssen, das hatte er sich gewünscht seit … Seit er sich erinnern konnte, und nun, da sie endlich nicht mehr fragte, tat ihm das sogar ein wenig weh. Seine Mutter schien ebenfalls zu einer Kontur zu verkommen.
Er war auch in der Banja gewesen, er hatte sich darauf gefreut, dass Schweiß seinen Körper herunterrinnt, er wollte Rutenschläge auf seinem Rücken und Biergeruch, der sich mit Schweißgeruch vermischt, aber der Geruch des Todes hatte ihn bis in die Banja verfolgt, weshalb er sie nach zwei Stunden schon verlassen hatte. Als er herausspaziert war in die Kälte, es lag noch Schnee, und in Sekundenschnelle stieg Dampf um ihn herum auf, da hatte er beschlossen, ihn zu akzeptieren. Vielleicht war der Geruch eine Art Strafe, vielleicht sollte er dafür bestraft werden, dass er sich nicht um seinen Vater kümmerte.
Er würde sich jetzt um seine Mutter kümmern, beschloss Grischa und zog den Reißverschluss seiner Jacke bis ganz nach oben, damit der eisige Wind ihm nicht in den Nacken wehte, und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Es war sechzehn Uhr, und er wusste, sein Bruder würde bis um sechs arbeiten und dann erst einmal zu ihnen nach Hause fahren, um seinem Vater den täglichen Besuch im abgedunkelten Zimmer abzustatten. Fast eine halbe Stunde blieb er jeden Tag neben dieser Kontur sitzen, die einst sein Vater gewesen war. Er hatte seinen Vater, wenn auch sonst für wenig, immer für seine Stärke bewundert. Eine der wenigen schönen Erinnerungen an seinen Vater waren die Samstage, an denen dieser ihn zur Baustelle mitgenommen hatte, in aller Herrgottsfrühe, wo er ihm stundenlang dabei zusehen konnte, wie er schwere Ziegelsteine und Holzbretter und Betonklötze schleppte, als wären es Kieselsteinchen und Stöckchen, als würde sein Vater nur Baustelle spielen, so wie er selbst, wenn sie wieder zu Hause waren, im Hof. Was machten sein Bruder und die abgemagerte Kontur, die einmal sein Vater gewesen war, in dem abgedunkelten Zimmer? Dass sie miteinander redeten, konnte er sich nicht vorstellen. Worüber auch? Erzählte Andrej ihm von seiner Arbeit? Erzählte er von Timoschka, dem Kleinen? Er nahm den Gedanken in eine seiner Listen auf, «Szenen für ein Buch»: ein Sohn, der seinem sterbenden Vater von seinem neugeborenen Sohn erzählt (drei Generationen). Es war schwer vorzustellen, dass Andrej tatsächlich von seinem Sohn zu erzählen vermochte, auch wenn er von Timoschka sehr angetan zu sein schien, und dass das schwache, bewegungslose Etwas, das einmal sein starker Vater gewesen sein soll, noch zuzuhören vermochte, bezweifelte er erst recht, auch wenn der Gedanke an ein solches Gespräch ihm gefiel.
Er musste insgesamt viermal umsteigen, aus dem Bus in die Metro, dann die Linie wechseln und schließlich mit zwei verschiedenen Trolleybussen fahren, weshalb es schon nach fünf war, als er dort ausstieg, wo er hoffte richtig zu sein. Die Hochhäuser sahen sich alle so ähnlich, auch die Straßenzüge, er war bislang erst zweimal da gewesen. Er blickte sich um und fragte sicherheitshalber eine Frau im Pelzmantel nach dem Weg, die zielstrebig mit ihren Einkaufstaschen die Bushaltestelle verließ. Zum Glück war er richtig ausgestiegen.
Toscha machte die Tür auf, und wer mehr erschrak, sie oder er, ließ sich nicht sagen. Toscha hatte noch weiter zugenommen, die Backen aufgedunsen wie die des Hamsters, den Anastasia als Kind gehabt hatte, ihre Hüften aufgeblasen wie Luftballons, ihre Brüste groß und schlaff. Er erschrak über diesen Anblick. Wo war das ansehnliche (wenn auch nie besonders hübsche), immer nett lächelnde Mädchen hin, das sein Bruder vor zwei Jahren zum ersten Mal mit nach Hause gebracht hatte? Toschas Schreck ging über Oberflächlichkeiten hinaus, sie fürchtete, was alle anderen in der Familie derzeit fürchteten. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Grischa klar wurde, warum Toscha erblasste, als sie ihn sah, warum sie Timoschka, den sie auf dem Arm hielt, noch enger an sich drückte, warum sie sich mit der freien Hand am Türpfosten festhielt, warum sie ihn fragend anstarrte, ohne ihn hereinzubitten. Er hatte sich selbst noch nicht in der Rolle des Botschafters gesehen – würden sie, wenn es so weit wäre, wenn sein Vater denn endlich gestorben wäre, tatsächlich ihn schicken, um der Familie die Nachricht zu übermitteln? Würde er Metro,
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