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Die Löwen

Die Löwen

Titel: Die Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Trinkwasser hervor und reichte sie Jane. Sein wilder Pulsschlag begann sich zu beruhigen. Er gewann seine Geistesgegenwart zurück. Von irgendwelchen
    › Indizien ‹ war jetzt nichts mehr zu sehen. Was sonst hätte bei Jane Verdacht erregen können? Hatte sie womöglich Anatoli französisch sprechen hören? Aber daran war nichts Ungewöhnliches: Wenn ein Afghane eine zweite Sprache sprach, so war das oft Französisch, und ein Usbeke beherrschte die französische Sprache vielleicht besser als Dari.
    Was hatte Anatoli gesagt, als sie eingetreten war? Jean-Pierre erinnerte sich: Er hatte nach einem Mittel gegen Blasen an den Füßen gefragt. Das war unverfänglich. Wenn Afghanen einen Arzt trafen, fragten sie immer nach Medikamenten, selbst wenn sie kerngesund waren.
    Jane trank aus der Flasche. »Wenige Minuten, nachdem du aufgebrochen warst, brachte man einen jungen Mann von achtzehn Jahren mit einer sehr schlimmen Schenkelwunde.«
    Sie trank wieder einen Schluck. Den › Usbeken ‹ beachtete sie gar nicht, und Jean-Pierre begriff, dass der Notfall ihre Gedanken so sehr in Anspruch nahm, dass sie die Anwesenheit des Mannes kaum bemerkte. »Er wurde während der Kämpfe bei Rokha verwundet, und sein Vater trug ihn den ganzen Weg das Tal hinauf-zwei Tage brauchte er dazu. Als sie ankamen, war die Wunde bereits brandig. Ich gab ihm 600 Milligramm Penicillin, ins Hinterteil injiziert, dann säuberte ich die Wunde.«
    »Absolut richtig«, sagte Jean-Pierre.
    »Ein paar Minuten später brach ihm kalter Schweiß aus, und er schien wirr im Kopf. Ich fühlte seinen Puls: Er war schnell, jedoch schwach.«
    »Wurde seine Haut bleich oder grau? Hatte er Atemnot?«
    »Ja.«
    »Was hast du gemacht?«
    »Ihn behandelt wie bei einem Schock – seine Füße höher gelagert, ihn mit einer Wolldecke bedeckt und ihm Tee gegeben -, und dann bin ich hinter dir her.« Sie war den Tränen nah. »Sein Vater hat ihn zwei Tage lang getragen – ich kann ihn nicht sterben lassen.«
    »Das brauchst du auch nicht unbedingt zu befürchten«, sagte Jean-Pierre.
    »Allergieschock ist eine zwar seltene, doch wohlbekannte Reaktion auf Penicillin-Injektionen. Zur Behandlung injiziert man einen halben Milliliter Adrenalin in einen Muskel, gefolgt von einem Antihystamin - sagen wir sechs Milliliter Diphenhydramin. Soll ich mit dir zurückgehen?« Bei dieser Frage warf er einen kurzen Blick auf Anatoli, doch der Russe zeigte keinerlei Reaktion.
    Jane seufzte. »Nein«, sagte sie. »Auf der anderen Seite des Berges wirst du dringend gebraucht. Geh nur nach Cobak.«
    »Bist du sicher?«
    »Ja.«
    Ein Streichholz flammte auf, Anatoli steckte sich eine Zigarette an. Jane sah ihn flüchtig an und wandte sich wieder Jean-Pierre zu. »Einen halben Milliliter Adrenalin und dann sechs Milliliter Diphenhydramin.« Sie erhob sich.
    »Ja.« Auch Jean-Pierre stand auf und küsste sie. »Bist du sicher, dass du zurechtkommst?«
    »Natürlich.«
    »Würdest du gern Maggie haben?«
    Jane überlegte. »Nein, ich glaube nicht. Auf dem Pfad kommt man zu Fuß schneller voran.«
    »Ganz wie du willst.«
    »Goodbye.«
    »Goodbye, Jane.«
    Jean-Pierre sah ihr nach, als sie die Hütte verließ. Eine Weile stand er bewegungslos.
    Weder er noch Anatoli sagte ein Wort. Nach ein paar Minuten ging er zur Türöffnung: Er sah Jane in einer Entfernung von zwei oder drei Kilometern, eine kleine, schmale Gestalt im dünnen Baumwollkleid, mit entschlossenen Schritten das Tal hinaufstrebend, allein in der staubigen braunen Landschaft. Er beobachtete sie, bis sie hinter einer Bodenwelle in den Hügeln verschwand.
    Er trat zurück in die Hütte und setzte sich, den Rücken an die Wand gelehnt. Er und Anatoli sahen einander an. »Allmächtiger Gott«, sagte Jean-Pierre. »Das war knapp.«

8
     
     
    DER ACHTZEHNJÄHRIGE STARB. Als Jane das Dorf erreichte, erhitzt und staubig und der totalen Erschöpfung nahe, war er bereits seit fast einer Stunde tot. Der Vater wartete an der Höhlenöffnung auf sie, wie erstarrt und mit vorwurfsvoller Miene. Seine resignierte Haltung und seine matten braunen Augen verrieten ihr, dass es vorüber war. Er blieb stumm. Sie ging in die Höhle und betrachtete den Toten. Zu müde, um Zorn zu empfinden, fühlte sie nur eine tiefe Niedergeschlagenheit. Jean-Pierre war fort und Zahara ganz in Trauer, und so hatte sie niemanden, mit dem sie ihren Schmerz teilen konnte.
    Sie weinte später, als sie in ihrem Bett auf dem Dach des Krämerhauses lag, neben sich auf

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