Die Löwen
gehörte zu ihrem Gebiet. Die wenigen umherziehenden Afghanen -
die Nomaden zum Beispiel – sprachen für gewöhnlich sowohl Paschtu als auch Dari.
Beherrschte ein Afghane eine europäische Sprache, dann Englisch oder Französisch. Der Usbeke hatte mit Jean-Pierre französisch gesprochen. Es war das erste Mal gewesen, dass Jane Französisch mit usbekischem Akzent gehört hatte. Es klang genauso wie mit russischem Akzent.
Den ganzen Tag über kehrten ihre Gedanken immer wieder zu dem Usbeken zurück. Die Erinnerung an ihn hatte etwas Bohrendes. Es war das gleiche Gefühl, das sie manchmal überkam, wenn sie wusste , dass es etwas Wichtiges zu erledigen galt, sie sich jedoch nicht entsinnen konnte, was es war. Vielleicht war an ihm etwas Sonderbares gewesen.
Zur Mittagszeit Schlossschloss sie die Klinik, stillte Chantal und wechselte ihre Windeln, bereitete dann ein Mahl aus Reis und Fleisch Fleischsoßefleischsoße ie mit Fara teilte. Das Mädchen war Jane inzwischen völlig ergeben: war begierig darauf, ihr jeden Gefallen zu tun; ging abends nur widerstrebend nach Hause. Jane versuchte, sie eher wie eine Gleichrangige zu behandeln, doch schien dies Faras Ergebenheit nur noch zu verstärken.
In der Hitze des Tages ließ Jane Chantal in Faras Obhut zurück und ging zu ihrem geheimen Platz, dem sonnenbeschienenen Felsvorsprung unter der überhängenden Steilwand. Dort absolvierte sie ihre postnatalen Gymnastikübungen, um wieder ihre frühere Figur zu bekommen. Während sie ihre Bauchmuskeln einzog, tauchte in ihrer Erinnerung wieder der Usbeke auf, wie er sich in der Steinhütte erhob, einen verblüfften Ausdruck auf seinem orientalischen Gesicht. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, eine Tragödie stehe bevor.
Als sie die Wahrheit begriff, war dies kein Akt blitzartiger Erkenntnis. Eher ließ es sich mit einer Lawine vergleichen, die als winziger Schneeklumpen begann, um unaufhaltsam anzuwachsen, bis sie schließlich alles unter sich begrub.
Kein Afghane würde sich jemals über Blasen an seinen Füßen beklagen, nicht einmal als Vorwand, denn von solchen Dingen wussten sie nichts: Das war etwa so unwahrscheinlich, als behaupte ein Bauer aus Gloucestershire, er habe Beriberi. Und kein Afghane, mochte er auch noch so verblüfft sein, würde jemals beim Eintritt einer Frau aufstehen. Aber wenn der Mann kein Afghane war, was war er dann? Sein Akzent verriet ihr, was sonst kaum jemand bemerkt haben würde: Nur weil sie mehrere Sprachen beherrschte, darunter Russisch und Französisch, hatte sie heraushören können, dass er Französisch mit russischem Akzent sprach.
Jean-Pierre hatte also einen als Usbeken verkleideten Russen in einer Steinhütte in einer gottverlassenen Gegend getroffen.
Zufall? Möglich. Doch dann fiel ihr Jean-Pierres Gesichtsausdruck ein, und nun konnte sie ihn, was ihr vorher unmöglich gewesen war, auch deuten: Schuldbewusstseinschuldbewusstsein , die Reaktion eines Ertappten.
Nein, das war keine zufällige Begegnung gewesen – das war ein verabredetes Treffen.
Und wahrscheinlich nicht das erste. Jean-Pierre war dauernd unterwegs zu entfernten Dörfern, um Patienten ambulant zu behandeln – und er war dabei von geradezu penibler Pünktlichkeit, unsinnigerweise in einem Land ohne Kalender und feste Termine.
Allerdings gar nicht so unsinnig, wenn jemand bestimmte Zeitpunkte einzuhalten hatte, zum Beispiel für heimliche Treffs.
Und warum traf er sich mit dem Russen? Das lag so klar auf der Hand, dass Jane die Tränen in die Augen stiegen, als sie erkannte, dass Jean-Pierre ein Verräter sein musste .
Zweifellos gab er denen Informationen. Er setzte sie über die Konvois ins Bild. Die jeweilige Route kannte er ja, weil Mohammed seine Landkarten benutzte. Er kannte den ungefähren Zeitplan, weil er die Männer aus Banda und anderen Dörfern im Fünf-Löwen-Tal aufbrechen sah. Diese Informationen gab er offensichtlich an die Russen weiter: Das war der Grund dafür, dass sie im vergangenen Jahr mit ihren Überraschungsangriffen auf die Konvois so erfolgreich gewesen waren; der Grund dafür, dass es so viele trauernde Witwen und traurige Waisen im Tal gab.
Was ist bloß mit mir los? dachte sie in einem plötzlichen Anfall von Selbstmitleid. Zuerst Ellis und jetzt Jean-Pierre - wie kommt es nur, dass ich immer auf solche Dreckskerle hereinfalle? Haben diese Geheimniskrämer irgendetwas an sich, wovon ich mich besonders angezogen fühle? Empfinde ich es womöglich als
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