Die Löwen
einer winzigen Matratze Chantal, die von Zeit zu Zeit zufrieden im Schlaf murmelte. Jane weinte um den Vater ebenso sehr wie um seinen toten Sohn.
Genau wie sie selbst hatte er sich über alle Grenzen der Erschöpfung hinaus angetrieben, um seinen Sohn zu retten. Wie groß, wie ungeheuer groß musste seine Trauer sein. Durch die Tränen in ihren Augen verschwammen die Sterne, bevor sie in Schlaf fiel.
Sie träumte, dass Mohammed zu ihrem Bett kam und sie liebte, während das ganze Dorf zusah; dann erzählte er ihr, Jean-Pierre hätte eine Affäre mit Simone, der Frau des dicken Journalisten Raoul Clermont, und das die beiden regelmäßige Stelldicheins in Cobak hätten, wozu die Behandlung von Patienten dort nur als Vorwand diente.
Am nächsten Tag tat ihr alles weh; kein Wunder, sie hatte ja fast die ganze Strecke bis zu der kleinen Steinhütte im Laufschritt zurückgelegt. Wie gut, dachte sie, während sie ihre Routinearbeiten verrichtete, dass Jean-Pierre in der kleinen Steinhütte Rast gemacht hatte, sonst hätte sie ihn kaum einholen können. Wie froh war sie gewesen, als sie Maggie draußen angebunden sah und dann in der Hütte Jean-Pierre fand zusammen mit diesem komischen kleinen Usbeken. Janes plötzliches Auftauchen hatte die beiden so sehr erschreckt, dass es fast schon zum Lachen gewesen war. Noch nie hatte sie es erlebt, dass ein Afghane aufstand, wenn eine Frau hereinkam.
Mit ihrer Arzneitasche stieg sie den Hang hinauf zur Höhlenklinik. Während sie mit den üblichen Fällen von Unterernährung, Malaria, infizierten Wunden und Darmparasiten beschäftigt war, dachte sie an den Notfall von gestern. Von einem Allergieschock hatte sie nie zuvor etwas gehört. Zweifellos wurde normalerweise jeder, der Penicillin-Injektionen zu verabfolgen hatte, auch darüber belehrt, doch ihre Ausbildung war so hastig gewesen, dass dabei vieles zu kurz kommen musste . Medizinische Details hatte man sogar fast völlig weggelassen mit der Begründung, dass Jean-Pierre ja ein voll qualifizierter Arzt sei, der ihr gegebenenfalls Anweisungen geben konnte.
Eine Zeit voll innerer Anspannung war das gewesen, damals, als sie in Unterrichtsräumen saß, manchmal mit Lernschwestern, manchmal allein, eifrig in sich aufnehmend, was man ihr über medizinische Dinge und über Gesundheitserziehung erzählte. Oft fragte sie sich, was sie wohl in Afghanistan erwarten mochte. So manche Unterrichtsstunde verunsicherte sie. Ihre erste Aufgabe, so war ihr gesagt worden, würde darin bestehen, ein Loch zu graben und als Klosett zu benutzen. Aus welchem Grund? Weil die schnellste Methode, den Gesundheitszustand der Menschen in den Entwicklungsländern zu verbessern, darin bestehe, sie zu veranlassen, nicht mehr Flüsse und Bäche als Toiletten zu benutzen, und dies könne man am besten erreichen, indem man ihnen mit gutem Beispiel voranging. Stephanie, ihre Lehrerin, ein bebrillter Urmuttertyp mittleren Alters, in Kattunkleidung und Sandalen, hatte auch betont, dass es unsinnig, ja gefährlich sei, allzu großzügig Medikamente zu verordnen. Die meisten Krankheiten und die leichteren Verletzungen würden sich auch ohne Medikamente bessern, doch primitive (und auch nicht so primitive) Menschen verlangten immer Pillen und sonstige Arzneien. Jane fiel der kleine Usbeke ein, der Jean-Pierre um ein Mittel gegen Blasen an den Füßen gebeten hatte. Bestimmt hatte er sein Leben lang große Strecken zu Fuß zurückgelegt, doch weil er einem Arzt begegnete, sagte er, die Füße täten ihm weh. Abgesehen von der reinen Verschwendung, war das übermäßige Verabreichen von Medikamenten auch aus einem anderen Grund unsinnig: Gab man einem Patienten aus geringfügigem Anlassanlass ein bestimmtes Mittel, so entwickelte sich bei ihm womöglich das, was man Toleranz nannte, wurde er dann ernsthaft krank, so wirkte das Medikament kaum oder gar nicht.
Stephanie hatte Jane auch geraten, nach Möglichkeit mit den lokalen › Medizinmännern ‹ oder › Medizinfrauen ‹ zusammenzuarbeiten und nicht etwa gegen sie. Bei Rabia, der Hebamme, war ihr das gelungen, bei Abdullah, dem Mullah, nicht.
Das Erlernen der Sprache war für Jane das Leichteste gewesen. Sie hatte ja schon zuvor Farsi, die persische Sprache, studiert, um ihre Chancen als Dolmetscherin zu verbessern.
Farsi und Dari waren Dialekte ein und derselben Sprache. Die andere Hauptsprache war Paschtu, die Sprache der Paschtunen, während Dari die Sprache der Tadschiken war, und das Fünf-Löwen-Tal
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