Die Löwen
gewissermaßen beim Genick packen und es, so sehr es sich auch sträubte, ins 20. Jahrhundert zwingen konnte, hinauszuzögern. Das hätte Jane wahrscheinlich sogar verstanden. Aber er wusste instinktiv: Sie würde ihm niemals verzeihen, dass er sie getäuscht hatte. Ja, sie wäre außer sich vor Zorn. Sie würde ihn sofort verlassen, so wie sie Ellis Thaler verlassen hatte. Und ihr Zorn wäre diesmal doppelt so groß, weil sie zweimal hintereinander auf ein und dieselbe Weise hintergangen worden war.
Also täuschte er sie weiterhin, aus Angst, sie zu verlieren. Er glich einem Mann an einem Abgrund, der vor Furcht gelähmt ist.
Dass etwas nicht stimmte, wusste sie; das verriet ihm die Art, wie sie ihn manchmal musterte. Doch war er sicher, dass sie meinte, es handle sich um etwas in ihrem Verhältnis zueinander – sie ahnte nicht einmal, dass sein ganzes Leben eine einzige Täuschung war.
Völlige Sicherheit konnte es für ihn nicht geben, doch ergriff er jegliche Vorsichtsmaßnahme, um nicht von ihr oder von irgendjemandem sonst entdeckt zu werden. Wenn er den Sender benutzte, sprach er verschlüsselt, jedoch nicht etwa, weil die Rebellen mithören könnten - sie hatten keine Empfänger -, sondern weil die afghanische Armee dazu in der Lage war, und dort wimmelte es dermaßen von Verrätern, dass es auf jener Seite für Masud keine Geheimnisse gab. Jean-Pierres Funksprechgerät war klein genug, um im doppelten Boden seiner Arzttasche versteckt zu werden oder auch, wenn er diese nicht bei sich hatte, in der Tasche seiner bauschigen afghanischen Hosen. Der Nachteil des Geräts bestand darin, dass es nur für kurze Gespräche reichte. Um alle Details der Routen und Zeitpläne der Konvois durchzugeben, hätte er, zumal in Code, wesentlich mehr Zeit gebraucht - und ein Gerät samt Batterien, das wesentlich stärker war, leider aber auch bedeutend größer. Jean-Pierre und Monsieur Leblond hatten sich dagegen entschieden. Und so war Jean-Pierre jetzt gezwungen, sich mit seinem Kontaktmann zu treffen, um ihm Informationen zu geben.
Er erreichte eine Anhöhe und blickte hinunter in ein kleines Tal. Die Fährte, der er bislang gefolgt war, führte hinab in ein anderes Tal, das mit diesem einen rechten Winkel bildete und geteilt wurde von einem reißenden, im Licht der Nachmittagssonne glitzernden Gebirgsbach. Jenseits des Bachs befand sich ein weiteres Tal, das hinaufführte in die Berge bei Cobak, seinem späteren Zielort. Dort, wo die drei Täler zusammentrafen, auf dem diesseitigen Fluss ufer, stand eine kleine Steinhütte. Das ganze Gebiet war übersät mit solchen primitiven Häuschen. Jean-Pierre nahm an, dass sie von Nomaden und reisenden Händlern gebaut worden waren und als Unterschlupf für die Nacht dienten.
Maggie am Zügel führend, begann Jean-Pierre den Hügel hinabzusteigen. Anatoli war vermutlich bereits zur Stelle. Jean-Pierre kannte weder seinen richtigen Namen noch seinen Rang, war sich jedoch sicher, dass er zum KGB gehörte. Aus einer Bemerkung, die Anatoli einmal über Generäle gemacht hatte, Schlossschloss Jean-Pierre, dass er den Rang eines Obersten bekleidete. Ein »Schreibtischoffizier« war er jedenfalls nicht. Zwischen diesem Punkt und Bagram gab es knapp achtzig Kilometer gebirgiges Gelände, und Anatoli legte die Strek-ke zu Fuß zurück, allein, in anderthalb Tagen. Er war ein orientalischer Russe mit hohen Backenknochen und gelblicher Haut, und in afghanischer Kleidung konnte er sich als Usbeke ausgeben. Das machte auch sein stockendes Dari plausibel - die Usbeken hatten ihre eigene Sprache. Anatoli bewies Mut: Natürlich sprach er kein Usbekisch, sodass für dass n immer die Gefahr der Entlarvung bestand; und auch er wusste , dass die Guerillas mit gefangen genommenen russischen Offizieren buzkashi spielten.
Für Jean-Pierre war das Risiko bei diesen Treffs ein wenig geringer. Seine ständigen Reisen zu entfernteren Dörfern, um dort ambulant zu behandeln, wirkten nicht besonders auffällig. Doch würde man wohl Verdacht schöpfen, wenn er mehr als ein-oder zweimal »zufällig« mit demselben wandernden Usbeken zusammentraf und dabei beobachtet wurde. Und falls ein Afghane, der französisch sprach, das Gespräch mit anhörte, das er mit dem umherziehenden Usbeken führte, so konnte er nur auf einen schnellen Tod hoffen.
Seine Sandalen verursachten kein Geräusch auf dem Pfad, und Maggies Hufe sanken lautlos in den staubigen Boden, weshalb er, als sie sich der Hütte näherten, eine
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