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Die Löwen

Die Löwen

Titel: Die Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Herausforderung, sie zu entlarven? Bin ich denn dermaßen bescheuert?
    Sie erinnerte sich, dass Jean-Pierre ursprünglich den Standpunkt vertreten hatte, die sowjetische Besetzung Afghanistans sei gerechtfertigt. Aber dann hatte er seine Ansicht geändert, und sie hatte geglaubt, ihre besseren Argumente hätten ihn von seinem Irrtum überzeugt. Offensichtlich hatte er seine Meinungsänderung bloß vorgetäuscht. Als er sich entschlossen hatte, nach Afghanistan zu gehen, um für die Russen zu spionieren, war seine scheinbar antisowjetische Einstellung Teil seiner Tarnung gewesen.
    War seine Liebe auch nur gespielt? Schon die Frage konnte einem das Herz brechen. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. Es war fast undenkbar. Sie hatte sich in ihn verliebt, ihn geheiratet, seine mürrische Mutter geküsst geküsst , sich an seine Art des Liebesspiels gewöhnt, den ersten Ehekrach überstanden, sich um gute Partnerschaft bemüht und ihm unter Angst und Schmerzen ein Kind geboren – hatte sie all das einer Illusion wegen getan, für einen Schein-Ehemann, der in Wirklichkeit nichts für sie empfand? Die Vorstellung war so abgrundtief frustrierend wie das Erlebnis, bis zur totalen Erschöpfung gerannt zu sein, um einem Achtzehnjährigen das Leben zu retten und ihn dann, bei der Rückkehr, tot vorzufinden. Nein, es war schlimmer als das. Es war wohl eher mit den Gefühlen des Vaters vergleichbar, der seinen Sohn zwei Tage lang geschleppt hatte und dann mit ansehen musste , wie er starb.
    Ihre Brüste fühlten sich voll an, was ihr bewusst bewusst machte, dass es wohl Zeit war, Chantal zu stillen. Sie zog sich an, wischte sich das Gesicht am Ärmel ab und stieg wieder den Hang hinauf. Allmählich ließ der erste Schock nach, und sie konnte wieder klarer denken. Ein vages Unbehagen, so schien ihr, hatte sie während des ganzen ersten Ehejahres empfunden, und jetzt begriff sie auch, warum. In gewisser Weise hatte sie die ganze Zeit über den Verrat Jean-Pierres gewittert. Wegen jener Barriere zwischen ihm und ihr war es nie zu einem Vertrauensverhältnis gekommen.
    Als sie die Höhle erreichte, war Chantal, während Fara sie in den Armen wiegte, bereits dabei, lauthals Klage zu führen. Jane nahm das Baby und gab ihm die Brust. Chantal begann zu saugen. Jane spürte das anfängliche Unbehagen wie einen Krampf in der Magengegend; dann wich es einem Gefühl in ihrer Brust, das angenehm und ziemlich erotisch war.
    Sie wollte allein sein. Deshalb schickte sie Fara zur Siesta in die Höhle ihrer Mutter.
    Chantal zu stillen, hatte etwas Beschwichtigendes. Jean-Pierres Doppelspiel wirkte auf einmal nicht mehr ganz so katastrophal. Seine Liebe zu ihr war nicht vorgetäuscht, bestimmt nicht. Denn was für einen Zweck hätte das haben können? Weshalb hätte er sie hierher mitnehmen sollen? Bei seiner Spionagetätigkeit war sie für ihn ohne jeden Nutzen, vielmehr eher ein Hindernis. Also hatte er sie wohl wirklich aus Liebe geheiratet.
    Und wenn er sie liebte, ließen sich auch alle anderen Probleme lösen. Natürlich würde er aufhören müssen, für die Russen zu arbeiten. Im Augenblick konnte sie sich noch nicht recht vorstellen, wie sie ihm gegenübertreten würde – sollte sie etwa sagen: »Ich bin jetzt über dich im Bilde!?« Nein. Doch die richtigen Worte würden sich schon einstellen, wenn sie sie brauchte. Dann würde er mit ihr und Chantal nach Europa zurückkehren müssen - Zurück nach Europa. Beim Gedanken an die Heimkehr durchströmte sie ein Gefühl der Erleichterung, das sie selbst überraschte. Denn hatte sie jemand gefragt, wie ihr Afghanistan gefiel, so hätte sie erwidert, was sie hier tat, sei faszinierend und lohnenswert, dass sie sehr gut zurechtkäme und dass es ihr sogar Spaß mache. Aber jetzt, da sie die Aussicht auf eine Rückkehr in die Zivilisation gleichsam unmittelbar vor sich sah, fielen solche Behauptungen wie ein Kartenhaus in sich zusammen, und sie gestand sich ein, dass die raue Landschaft, der harte Winter, die fremdartigen Menschen, die Bombardierungen und der endlose Strom verwundeter und verstümmelter Männer und Jungen ihre Nerven bis zum Zerreißen gespannt hatten.
    Die Wahrheit ist, dachte sie, dass es hier grauenvoll ist.
    Chantal hörte auf zu saugen und schlief ein. Jane legte sie hin; wechselte dann die Windeln und bettete sie auf ihre Matratze, ohne dass das Kind dabei aufwachte. Chantals unerschütterlicher Gleichmut war ein wahrer Segen. ‘ Sie schlief, was auch immer ringsum

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