Die Löwen
er Anatoli auf der Karte die vorgesehene Route des Konvois für den Rückweg aus Pakistan. Wann sie von dort aufbrechen würden, wusste er nicht, weil auch Mohammed nicht wusste , wie lange sie sich in Peschawar würden aufhalten müssen, um zu kaufen, was sie brauchten. Doch hatte Anatoli in Peschawar Leute, die ihm melden würden, wann der Fünflöwenkonvoifünflöwenkonvoi aufbrach, und dann war er in der Lage, den Zeitplan des Konvois ziemlich genau auszurechnen.
Anatoli machte sich keine Notizen, prägte sich jedoch alles, was Jean-Pierre sagte, minutiös ein. Als sie fertig waren, gingen sie das Ganze noch einmal durch, nur dass diesmal Anatoli sprach, damit Jean-Pierre etwaige Irrtümer korrigieren konnte.
Der Russe faltete die Karte zusammen und steckte sie wieder ins Hemd. »Und was ist mit Masud?« fragte er ruhig.
»Wir haben ihn nicht gesehen, seit ich das letzte Mal mit dir sprach«, sagte Jean-Pierre.
»Ich habe nur Mohammed gesehen – und der ist nie ganz sicher, wo sich Masud befindet oder wann er auftauchen wird.«
»Masud ist ein Fuchs«, sagte Anatoli mit unterdrücktem Zorn; er verriet nur selten Gefühle. »Wir werden ihn fangen«, sagte Jean-Pierre. »Ja, das werden wir. Er weiß, dass die Jagd in vollem Gange ist, also verwischt er seine Spuren. Aber die Hunde haben Witterung aufgenommen, und er kann uns nicht ewig entwischen - wir sind viele, wir sind stark, und wir sind scharf auf ihn.« Plötzlich wurde ihm klar, dass er sich seine Gefühle anmerken ließ. Er lächelte und kam wieder zur Sache. »Batterien«, sagte er und zog ein Päckchen aus seinem Hemd.
Jean-Pierre holte sein kleines Funkgerät aus dem doppelten Boden seiner Arzttasche, nahm die alten Batterien heraus und ersetzte sie durch die neuen. Das taten sie bei jedem Treffen, um sicherzugehen, dass Jean-Pierre nicht aus bloßem Energiemangel den Kontakt verlor. Anatoli nahm die alten Batterien mit nach Bagram, denn es wäre leichtsinnig gewesen, Batterien russischer Herkunft hier im Fünf-Löwen-Tal wegzuwerfen, wo es keinerlei elektrische Geräte gab.
Während Jean-Pierre das Gerät wieder in der Tasche verstaute, fragte Anatoli: »Hast du etwas gegen Blasen?
Meine Füße -« Er brach ab, drehte mit gekrauster Stirn den Kopf und lauschte.
Jean-Pierre erstarrte. Bislang waren sie nie zusammen beobachtet worden. Doch früher oder später musste es passieren, das war ihnen klar gewesen, daher hatten sie miteinander abgesprochen, wie sie sich in einem solchen Fall verhalten würden: wie Fremde, die sich zufällig denselben Rastplatz teilten. Entfernte sich der Eindringling wieder, konnten sie ihr Gespräch fortsetzen; wollte der Eindringling jedoch gleichfalls längere Rast halten, so würden sie sich zusammen entfernen, als strebten sie, rein zufällig, in dieselbe Richtung. So war es abgesprochen; dennoch hatte Jean-Pierre das Gefühl, man müsse ihm den Schwindel auf den ersten Blick ansehen können.
Dann hörte er draußen Schritte, hörte Keuchen; ein Schatten verdunkelte den sonnenhellen Eingang, und Jane trat ein.
»Jane!« sagte er.
Beide Männer waren aufgesprungen.
Jean-Pierre fragte: »Was ist los? Warum bist du hier?«
»Gott, bin ich froh, dass ich dich noch eingeholt habe«, sagte sie atemlos.
Aus den Augenwinkeln sah Jean-Pierre, wie Anatoli sein Gesicht mit dem Halstuch bedeckte und sich abwandte, so wie jeder Afghane sich abwenden würde angesichts einer solch vorwitzigen Frau. Diese Gebärde half Jean-Pierre über den Schock hinweg, den Janes unvermutetes Auftauchen bewirkt hatte. Rasch sah er sich um. Die Landkarte hatte Anatoli bereits eingesteckt. Doch das Funkgerät - das Funkgerät stach zwei oder drei Zentimeter aus der Arzttasche hervor. Jane hatte es jedoch noch nicht bemerkt.
»Setz dich doch«, sagte Jean-Pierre. »Komm erst mal zu Atem.« Er ließ sich gleichzeitig mit ihr nieder, und das gab ihm Gelegenheit, seine Arzttasche so herumzuschieben, dass das Funkgerät auf seiner Seite hervorlugte, von Jane jedoch nicht zu sehen war. »Was gibt’s denn?« fragte er.
»Ein medizinisches Problem, das ich nicht lösen kann.«
Jean-Pierres innere Anspannung ließ ein wenig nach: Er hatte befürchtet, sie sei ihm gefolgt, weil ihr ein Verdacht gekommen war. »Trink einen Schluck Wasser«, sagte er.
Mit der einen Hand fasste er in die Tasche und begann zu kramen, während er mit der anderen das Funkgerät tiefer schob. Als das Funkgerät nicht mehr zu sehen war, zog er seine Flasche mit
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