Die Löwen
Kehle mit dem Skalpell durchschneiden? Er ist viel stärker als ich - ich könnte ihn niemals überwältigen.
Wie hatte es überhaupt zu dieser Pleite kommen können? Er und Anatoli waren sorglos geworden. Sie hätten einen Treffpunkt wählen sollen, von dem die Sicht nach allen Seiten frei war, sodass sich niemand unbemerkt nähern konnte. Aber wer sollte auch auf den Gedanken kommen, dass Jane ihm folgen würde? Es war ein geradezu unglaubliches Pech, dem er zum Opfer gefallen war: Dass der junge Verwundete gegen Penicillin allergisch war; dass Jane Anatoli sprechen hörte; dass sie seinen russischen Akzent bemerkte; und dass Ellis unvermutet auftauchte, was ihr den nötigen Mut gab. Es war ein ungeheures Pech. Aber die Geschichtsbücher verzeichnen nun mal keine Männer, die nur beinahe Großes geleistet hätten. Ich habe mein Bestes getan, Papa, dachte er; und glaubte fast wirklich, die Antwort seines Vaters zu hören: Mich interessiert nicht, ob du dein Bestes getan hast, ich möchte nur wissen, ob du erfolgreich warst oder versagt hast.
Er näherte sich dem Dorf. Es war wohl das klügste, sich ins Bett zu legen. Er schlief zwar schlecht, aber es gab für ihn nichts zu tun. Also ging er zum Krämerhaus.
Aus irgendeinem Grunde bot die Tatsache, dass Jane noch bei ihm war, nicht viel Trost.
Nachdem sie sein Geheimnis entdeckt hatte, war da etwas Trennendes, das sich noch zu vertiefen schien, obwohl sie beide ihre Rückkehr nach Europa planten und sogar über ihr neues Leben dort sprachen.
Und nachts, im Bett, umarmten sie einander immer noch. Das war immerhin etwas.
Er betrat das Krämerhaus. Zu seiner Überraschung lag Jane nicht im Bett, sondern war noch auf. Als sie ihn sah, sagte sie: »Ein Bote Masuds war da. Du muss t nach Astana. Ellis ist verwundet.«
Ellis verwundet. Jean-Pierres Herz schlug schneller. »Schlimm?«
»Er hat eine Kugel im Hintern.« »Ich werde gleich morgen früh aufbrechen.« Jane nickte.
»Der Bote wird dich begleiten. Vor Einbruch der Nacht kannst du wieder hier sein.«
»Verstehe.« Jane wollte sichergehen, dass er keine Gelegenheit fand, mit Anatoli zusammenzutreffen. Doch ihre Vorsicht war überflüssig: Jean-Pierre hatte keine Möglichkeit, ein solches Treffen zu arrangieren. Im übrigen versuchte Jane, einer geringeren Gefahr vorzubeugen, und übersah dabei eine weit größere. Ellis war verwundet. Also ziemlich schutzlos. Womit sich alles änderte. Jetzt konnte Jean-Pierre ihn töten.
Jean-Pierre lag die ganze Nacht wach und dachte darüber nach. Er stellte sich Ellis vor, wie er auf einer Matratze unter einem Feigenbaum lag und die Zähne zusammenbiss , weil ein zerschmetterter Knochen ihm Schmerzen bereitete; vielleicht war er auch blassblass und schwach durch den Blutverlust. Er sah sich selbst beim Präparieren einer Injektion. »Dies ist ein Antibiotikum, um eine Infektion der Wunde zu verhindern«, würde er sagen und Ellis dann eine Überdosis Digitalis injizieren.
Ein Herzschlag aus heiterem Himmel war zwar unwahrscheinlich, aber bei einem Mann von vierunddreißig Jahren keineswegs unmöglich. Im übrigen würde es keine Untersuchung, keine Leichenöffnung und keine Verdächtigungen geben: Im Westen würde niemand daran zweifeln, dass Ellis seinen im Kampf erlittenen Wunden erlegen war. Hier im Tal würden alle Jean-Pierres Diagnose akzeptieren. Man hatte zu ihm ebenso vielebenso-viel Vertrauen wie zu irgendeinem von Masuds erprobtesten Leutnants – was nur natürlich war, denn er hatte für die Sache ebenso viele Opfer gebracht wie irgendein anderer: So musste es jedenfalls erscheinen. Einzig Jane würde ihre Zweifel haben. Aber was konnte sie tun?
Er war sich nicht sicher. Solange sie auf Ellis’ Hilfe bauen konnte, war sie eine nicht zu unterschätzende Gegnerin; auf sich allein gestellt, war sie nicht sehr gefährlich. Vielleicht konnte Jean-Pierre sie sogar dazu überreden, doch noch ein Jahr hier im Tal zu bleiben.
Er würde ihr versprechen, die Konvois nicht zu verraten; dann musste er versuchen, den Kontakt zu Anatoli wiederherzustellen, und einfach auf seine Chance warten, Masud den Russen ans Messer zu liefern.
Um zwei Uhr nachts gab er Chantal die Flasche, ging dann wieder zu Bett. Er machte nicht einmal den Versuch, etwas Schlaf zu finden. Er war zu angespannt, zu aufgeregt, zu nervös. Während er auf den Sonnenaufgang wartete, ging ihm durch den Kopf, was alles seinen Plan durchkreuzen konnte. Vielleicht würde Ellis es
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