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Die Löwen

Die Löwen

Titel: Die Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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über die Felder ein etwa zwölfjähriger Junge entgegen, der sie jedoch nicht zu dem Dorf auf dem Hügel führte, sondern zu einem großen Haus am Rande des Ackerlands.
    Noch immer empfand Jean-Pierre keine Zweifel, kein Zaudern; nur eine innere Anspannung, ähnlich wie vor einer wichtigen Prüfung.
    Er nahm seine Arzttasche vom Pferd, überließ die Zügel dem Jungen und betrat den Hof.
    Auf dem Hof hockten zwanzig oder mehr Guerillas und starrten ins Leere. Masud war nicht zu sehen, doch zwei seiner vertrautesten Unterführer befanden sich auf dem Hof.
    Ellis lag in einem schattigen Winkel auf einer Decke.
    Jean-Pierre kniete sich neben ihn. Ellis litt unverkennbar Schmerzen. Er lag auf dem Bauch. Sein Gesicht wirkte angespannt, fast verzerrt. Er war blassblass , auf der Stirn glänzte Schweiß. Er atmete schwer.
    »Tut weh, wie?« fragte Jean-Pierre auf englisch.
    »Und ob, verdammt noch mal«, sagte Ellis.
    Jean-Pierre zog das Tuch fort, das Ellis’ Körper bedeckte. Die Guerillas hatten seine Kleidung aufgeschnitten und die Wunde provisorisch verbunden. Jean-Pierre entfernte den Verband. Eine schwere Verletzung war es nicht, das sah er auf den ersten Blick. Ellis hatte eine Menge Blut verloren, und die Kugel, die noch im Muskelgewebe steckte, bereitete ihm offenbar höllische Schmerzen; doch hatte sie weder einen Knochen noch wichtige Blutgefäße getroffen - die Wunde würde schnell heilen.
    Nein, wird sie nicht, dachte Jean-Pierre. Sie wird überhaupt nicht heilen.
    »Als erstes werde ich dir etwas geben, um die Schmerzen zu lindern«, sagte er.
    »Nur zu, ich kann’s brauchen«, erwiderte Ellis.
    Jean-Pierre zog das Tuch weiter nach oben. Jetzt konnte er sehen, dass Ellis auf dem Rücken eine große, kreuzförmige Narbe hatte. Woher mag er die haben? dachte Jean-Pierre.
    Ich werde es nie erfahren.
    Er öffnete seine Arzttasche. Jetzt werde ich Ellis töten, dachte er. Ich habe noch nie jemanden getötet, nicht einmal unabsichtlich. Was ist das für ein Gefühl, ein Mörder zu sein? Jeden Tag geschieht es, überall auf der Welt: Männer töten ihre Frauen, Frauen töten ihre Kinder, Attentäter töten Politiker, Einbrecher töten Hausbesitzer, beamtete Henker töten Mörder. Er nahm eine große Injektionsspritze und begann, sie mit Digitoxin zu füllen: Das Medikament befand sich in kleinen Ampullen, und er musste vier davon leeren, um auf eine tödliche Dosis zu kommen.
    Was für ein Gefühl würde es sein, Ellis sterben zu sehen? Als erstes würde sich sein Herzschlag beschleunigen. Das würde er spüren und darauf mit Unbehagen und Besorgnis reagieren. Wenn die Wirkung des Giftes dann stärker wurde, folgte jedem normalen Herzschlag ein zweiter - schwächerer. Jetzt würde Ellis sich schrecklich elend fühlen. Schließlich gerieten die Herzschläge völlig durcheinander. Die Herzkammern arbeiteten unabhängig voneinander, und Ellis würde sterben, unter Schmerzen und voll Schrecken.
    Was werde ich tun, dachte Jean-Pierre, wenn er schreit und mich, den Arzt, bittet, ihm zu helfen? Werde ich ihm sagen, dass ich seinen Tod will? Wird er erraten, dass ich ihn vergiftet habe? Werde ich Trostworte sprechen, um ihm das Sterben zu erleichtern? Nurnicht in Panik geraten, dies ist eine normale Nebenwirkung des schmerzstillenden Mittels,das gibt sich bald wieder.
    Die Spritze war bereit.
    Ich kann es tun, dachte Jean-Pierre. Ich kann ihn töten. Ich weiß nur nicht, wie mir hinterher zumute sein wird.
    Er entblößte Ellis’ Oberarm und betupfte, aus reiner Gewohnheit, eine Stelle mit Alkohol.
    In diesem Augenblick erschien Masud.
    Jean-Pierre hatte ihn nicht kommen hören, und so schien er aus dem Nichts hervorzutauchen, was Jean-Pierre unwillkürlich zusammenzucken ließ.
     
    Masud legte seine Hand auf seinen Arm. »Ich habe Sie erschreckt, Monsieur le docteur«, sagte er. Dicht neben Ellis’ Kopf kniete er nieder. »Ich habe mir den Vorschlag der amerikanischen Regierung durch den Kopf gehen lassen«, sagte er zu Ellis auf französisch.
    Jean-Pierre, gleichfalls auf dem Boden kniend, die große Spritze in der Hand, horchte auf.
    Was für ein Vorschlag? Masud sprach offen, als sei Jean-Pierre einer seiner Kameraden – was er, in gewisser Weise, ja auch war. Doch Ellis … Ellis würde vielleicht auf ein Gespräch unter vier Augen dringen.
    Mühsam stützte sich Ellis auf einem Ellbogen hoch. Jean-Pierre hielt den Atem an. Doch alles, was Ellis sagte, war: »Sprich weiter.«
    Er ist zu erschöpft, dachte

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