Die Löwen
eines Bauernhauses. Was Ellis’ Schmerzen betraf, so waren sie jetzt etwas abgeklungen, doch hatte ihn der Transport sehr geschwächt. Seine Wunden waren von den Guerillas notdürftig verbunden worden.
Etwa eine Stunde nach der Ankunft in Astana gab man ihm heißen und süßen grünen Tee, der ihn ein wenig belebte, und etwas später gab es für alle Maulbeeren und Joghurt: das Abendessen. So war es meist bei den Guerillas, wie Ellis während der Reise mit dem Konvoi von Pakistan zum Fünf-Löwen-Tal beobachtet hatte. Ein oder zwei Stunden nach dem Erreichen des jeweiligen Zielorts war auf einmal Verpflegung für alle da. Ellis wusste nicht, ob die Guerillas sie kauften, requirierten oder geschenkt bekamen, doch er vermutete, dass man sie ihnen umsonst gab, manchmal freiwillig, manchmal widerstrebend.
Nach der Mahlzeit setzte sich Masud zu Ellis, und in den nächsten Minuten verschwanden nach und nach die anderen Guerillas bis auf zwei seiner Unterführer. Es war Ellis klar, dass er jetzt mit Masud sprechen musste , denn bis sich wieder Gelegenheit dazu fand, mochte eine ganze Woche vergehen. Doch er fühlte sich zu schwach und zu erschöpft für eine so schwierige und heikle Aufgabe.
Masud sagte: »Vor vielen Jahren bat ein anderes Land den König von Afghanistan um fünfhundert Krieger als Hilfstruppe in einem Krieg. Der afghanische König schickte fünf Männer aus unserem Tal mit einer Botschaft, die besagte, es sei besser, fünf Löwen zu haben als fünfhundert Füchse. So kam es, dass man unser Tal das › Tal der fünf Löwen ‹ nannte.« Er lächelte. »Du warst heute ein Löwe.«
Ellis sagte: »Ich habe eine Sage gehört, in der es heißt, es habe einmal fünf große Krieger gegeben, bekannt als die Fünf Löwen, von denen jeder einen der fünf Wege ins Tal bewachte. Und ich habe auch gehört, dass man dich den Sechsten Löwen nennt.«
»Genug der Sagen«, erwiderte Masud mit einem Lächeln. »Was hast du mir mitzuteilen?«
Ellis hatte sich auf das Gespräch sorgfältig vorbereitet, doch überraschte ihn nun die Direktheit, mit welcher der Guerillaführer die Sache anging. Orientalische Weit-schweifigkeit entsprach offenbar nicht Masuds Art. Ellis sagte: »Ich muss dich zuerst bitten, mir darzulegen, wie du die militärische Situation einschätzt.«
Masud nickte, überlegte ein paar Sekunden und sagte dann: »Die Russen haben zwölftausend Mann in der Stadt Rokha, dem Tor zum Tal. Ihre Strategie ist stets dieselbe. Den äußersten Ring bilden Minenfelder, dann kommen afghanische Truppen und danach russische Einheiten, um die Afghanen an der Flucht zu hindern. Sie erwarten weitere zwölfhundert Mann als Verstärkung. Sie planen innerhalb der nächsten zwei Wochen eine größere Offensive im Tal mit dem Ziel, unsere Streitkräfte zu vernichten.«
Ellis fragte sich, wie Masud zu solch präzisen Informationen kam, doch er war nicht so taktlos, die Frage auszusprechen. Statt dessen sagte er: »Und wird die Offensive Erfolg haben?«
»Nein«, erwiderte Masud mit ruhiger Zuversicht. »Wenn sie angreifen, verschwinden wir in den Hügeln, sodass es hier niemanden gibt, gegen den sie kämpfen können. Wenn sie dann Halt machen, setzen wir ihnen von den Hügeln her mit Störangriffen zu und durchbrechen ihre Verbindungslinien. Wir zermürben sie, nach und nach. Sie müssen gewaltige Mittel einsetzen, um ein Territorium zu halten, das ihnen keinerlei militärische Vorteile bietet. Schließlich ziehen sie sich zurück. So ist es immer.«
Das war wie aus einem Lehrbuch über Guerilla-Kriegsführung, dachte Ellis. Gar keine Frage, dass die anderen Stammesführer viel von Masud lernen konnten. »Wie lange, glaubst du, können die Russen solche vergeblichen Angriffe noch durchführen?«
Masud zuckte mit den Schultern. »Das liegt in Gottes Händen.«
»Werdet ihr jemals in der Lage sein, sie aus eurem Land zu vertreiben?«
»Die Vietnamesen haben die Amerikaner aus ihrem Land vertrieben«, sagte Masud mit einem Lächeln.
»Ich weiß - ich war dort«, sagte Ellis. »Weißt du, wie sie es gemacht haben?«
»Ein wichtiger Faktor war nach meiner Meinung die Tatsache, dass die Vietnamesen von den Russen mit den modernsten Waffen versorgt wurden, vor allem mit tragbaren Boden-Luft-Geschossen. Das ist für Guerillatruppen die einzige Möglichkeit, sich gegen Flugzeuge und Hubschrauber zu wehren.«
»Dieser Ansicht bin ich auch«, sagte Ellis. »Und dieser Ansicht ist vor allem die Regierung der Vereinigten
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