Die Löwin aus Cinque Terre: Laura Gottbergs dritter Fall
was die mit ihr machen, aber sie schreit immer wieder.»
«Hast du denn keinen der anderen Nachbarn erreicht?»
«Totale Fehlanzeige! Sofia ist durchs ganze Haus. Die sind alle weg. Nur Frau Werner war da. Aber die konnte auch nicht helfen! Ist ja klar.»
Natürlich, Frau Werner war zweiundneunzig.
«So, jetzt lass mich mal versuchen!» Laura stellte sich vor die Wohnungstür der Familie Özmer. Im Augenblick war nichts zu hören. Laura klingelte nicht, sondern klopfte mehrmals kräftig gegen die Tür. Dann drückte sie die Briefklappe nach innen auf und sagte laut: «Ich möchte, dass Sie sofort öffnen. Hier ist Ihre Nachbarin, Laura Gottberg. Falls Sie nicht aufmachen, werde ich meine Kollegen von der Polizei rufen!» Laura lehnte den Kopf an den Briefschlitz. Drinnen war es totenstill, dann wisperte es, leise Schritte näherten sich, Laura hörte Atemzüge, wieder Flüstern, endlich knackte das Sicherheitsschloss, und die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Es war Safira Özmer, Ülivias Mutter, die ängstlich aus dem dunklen Flur ihrer Wohnung hervorspähte.
«Ist alles in Ordnung, Laura. Warum Luca klingeln? Alles in Ordnung!» Ihre Stimme war so leise, dass Laura sie kaum verstehen konnte.
«Ich würde gern mit Ülivia sprechen», erwiderte Laura. «Luca hat sich Sorgen gemacht, weil sie um Hilfe gerufen hat.»
Safira Özmers Stimme wurde leiser, sie hauchte ihre Worte nur noch, und der Türspalt wurde schmaler. «Niemand geschrien. Nicht Ülivia. War Fernseher!»
Laura schob ihre Fußspitze nach vorn, drückte die Tür ein bisschen weiter auf. Safira wich zurück.
«Ülivia nicht da! Arbeiten!»
Laura sah die Furcht in ihren Augen und gleichzeitig eine Art Flehen, das sie nicht genau deuten konnte. Jedenfalls hinderte Safira sie nicht daran, die Tür ganz aufzuschieben, tat zwei Schritte rückwärts und lehnte sich mit gesenktem Kopf an die Wand, zog das geblümte Kopftuch tiefer ins Gesicht, als könne sie sich auf diese Weise unsichtbar machen.
In dem langen Flur brannte kein Licht. Als Lauras Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie, dass außer Safira fünf andere Frauen herumstanden, wie eine seltsame Installation. Einige wandten ihr den Rücken zu, andere starrten sie an. Keine sagte etwas. Laura knipste das Licht an. Die Frauen zuckten beinahe gleichzeitig zusammen, schlossen die Augen oder hoben schützend die Hände. Alle gehörten sie zur Großfamilie der Özmers. Da waren Ülivias Schwester, die beiden Schwägerinnen, eine Tante und eine Cousine. Laura überlegte. Ihr war sehr wohl bewusst, dass sie unbefugt in diese fremde Wohnung eindrang und im Begriff war, so etwas wie Hausfriedensbruch zu begehen.
Sie wartete auf ein Wort, einen Hinweis, doch die Frauen blieben stumm, bewegten sich nicht einmal. Langsam ging Laura an ihnen vorbei, forschte in den blassen Gesichtern, deren Augen sich abwandten, wenn sie versuchte, Kontakt aufzunehmen. Nur eine, Ülivias Schwägerin Ila, wies Laura den Weg, mit einer winzigen Bewegung ihres Kinns und einem schnellen Blick auf die verschlossene Küchentür am Ende des Flurs. Keine der Frauen hinderte Laura daran, auf diese Tür zuzugehen und sie aufzustoßen.
Ülivia saß auf einem Stuhl in der Mitte der kleinen Küche. Vor ihr standen drei Männer: ihr Vater, ihr ältester Bruder und ein Onkel. Das Gesicht der jungen Frau war geschwollen, blaue und rote Flecke breiteten sich über Stirn, Augen und Kinn aus. Sie hielt beide Arme erhoben und versuchte so die Schläge abzuwehren. Laura Gottberg erfasste die Situation im Bruchteil einer Sekunde, stieß den Bruder zur Seite, packte das Mädchen an der Schulter und zog es hinter sich her durch den langen Flur zur Wohnungstür, vorbei an den erstarrten Frauen, hinaus ins Treppenhaus und in die eigene Wohnung. Luca knallte die Tür hinter ihnen zu, drehte den Schlüssel um und legte die Kette vor.
«Mann!», sagte er. «Wie hast du denn das gemacht?» Er beobachtete den Hausgang durch den winzigen Spion in der Tür. Sofia legte das Telefon weg und presste eine Hand auf ihren Mund.
«Los, hol die kalten Kompressen aus dem Kühlschrank», wies Laura ihre Tochter an. Behutsam führte sie Ülivia in ihr Schlafzimmer und setzte sich neben sie aufs Bett. Die junge Türkin ließ alles mit sich geschehen, hielt mit beiden Armen ihren Oberkörper umschlungen, weinte lautlos.
Laura streichelte ihren Rücken, legte dann einen Arm um die Schultern des Mädchens, wiegte es leicht hin und her,
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