Die Löwin von Aquitanien
Richard nicht, als dieser ihm eine ähnliche Frage gestellt hatte.
»Er hat nach Euch gerufen, meine Königin.«
»Das hat er nicht«, antwortete Alienor scharf. »Ihr erfindet das nur, Marshall, weil Ihr glaubt, daß es das ist, was eine alte Frau hören möchte.«
»Euer Gnaden«, gab William Marshall ernst zurück, »ich lüge nicht, und überdies halte ich Euch für einen der wenigen Menschen, die niemals trostreiche Märchen nötig haben.«
Alienor stand auf und wandte sich ab. Marshall schwieg und beobachtete die schlanke Gestalt dieser Frau, deren Gefangenschaft nun nach sechzehn Jahren beendet war. Nach einer Weile drehte sie sich wieder um und sagte mit einem schwachen Lächeln: »Nun, ich danke Euch für das Kompliment. Ihr seid ein guter und treuer Gefolgsmann, und ich weiß, so wird es auch bleiben. Es ist wirklich schade, daß wir das Märchen vom Ritter und der gefangenen Prinzessin nicht durchspielen können, denn Ihr eignet Euch sehr dazu, aber ich bin zu alt, und Ihr kommt zu spät für so eine Rolle. Doch ich danke Euch, William, für Eure gute Absicht.«
Nach einigem Überlegen zog sie einen der drei Ringe, die sie trug, vom Finger. Der Ausdruck in ihren Augen war seltsam. »Nehmt das als Zeichen meines Dankes«, sagte sie leise, »ich habe nur einmal einen Boten so belohnt, und es erscheint mir sehr passend.«
William kniete nieder und küßte ihre Hand. »Gott gebe meiner Königin ein langes und gesundes Leben.«
»Das wird er«, erwiderte sie, »das wird er. Er hat mir immer alle meine Wünsche erfüllt, das ist die Ironie dabei, wißt Ihr?« Sie blickte auf den Ritter hinab.
»Geht jetzt, ich bitte Euch. Ich nehme an, Ihr bleibt noch in Winchester?«
William Marshall erhob sich. »Leider nicht, Euer Gnaden«, entgegnete er bedauernd, »Euer Sohn hat mir die Hand von Isabel de Clare, der Erbin von Pembroke und Leinster in Irland, gewährt, und ich habe versprochen, sie sofort nach Eurer Befreiung aufzusuchen.«
»Tut das«, sagte die Königin, »und meine besten Wünsche für Eure Ehe.«
Als er gegangen war, begann sie ruhelos im Raum auf und ab zu schreiten. Eine Menge Aufgaben warteten auf sie, denn Richards Ankunft in England mußte vorbereitet werden. Er war in diesem Land so gut wie unbekannt, und es galt, die Anhänger des alten Königs zu versöhnen. Doch ihre Gedanken kehrten immer wieder nach Chinon zurück, in das Gemach eines sterbenden Mannes, der erfahren hatte, daß auch sein jüngster Sohn, den er mehr geliebt und gefördert hatte als jeden anderen, ihn im Stich ließ.
»Oh, es sieht dir ähnlich, Henry«, sagte sie halblaut, »du kannst nicht sterben, ohne mich dabei noch einmal zu verletzen.« Plötzlich blieb sie stehen, lehnte sich gegen die Wand und preßte ihr Gesicht gegen den rauhen Stein. »Warum, Henry? Wie ist es mit uns nur soweit gekommen?«
Seit achtunddreißig Jahren hatten ihre stärkste Liebe, ihr größter Haß nur diesem einen Menschen gegolten, und nun hatte der Tod ihn ihr endgültig genommen - ein solcher Tod. Der Tod war in der Tat ein Befreier, er machte viele Dinge möglich. Das erste Mal wagte sie es, ihre Gefühle laut auszusprechen. »Ich liebe dich, Henry«, flüsterte sie. »Gott vergebe uns beiden, aber ich habe dich während all dieser Jahre geliebt, und ich weiß nicht, ob ich je aufhören werde, dich zu lieben. Ich hoffe, du bist tatsächlich in der Hölle, und wir sehen uns dort.«
Wie eine Feuersbrunst verbreitete sich in England die Nachricht, daß Königin Alienor durchs Land reiste, von Stadt zu Stadt, von Burg zu Burg, und im Namen ihres Sohnes Recht sprach. Sie befreite alle Gefangenen, die ohne ein Gerichtsverfahren nur aufgrund des Befehls des Königs oder seiner Richter eingekerkert worden waren, und auch diejenigen, die vor Gericht einen Bürgen stellen konnten, wenn ihr Prozeß nun noch einmal aufgerollt wurde, »da ich aus eigener Erfahrung weiß«, wie Alienor in einer Proklamation schrieb,
»wie herrlich es ist, aus der Haft entlassen zu werden.«
Von der Krone willkürlich eingezogene Güter wurden von ihr zu-rückerstattet, und sie hörte sich alle Klagen an, die über die Sheriffs vorgebracht wurden. Wohin sie kam, versammelte sich eine riesige Menschenmenge, um sie zu sehen, und Alienor nahm nach ihren Rechtsprechungen für Richard den Treueid entgegen. Sie führte auch andere Neuerungen ein, über die sie sich in ihrer Gefangenschaft Gedanken gemacht hatte und die zwar nicht so sehr ins Auge fielen wie die
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