Die Loewin von Mogador
gehörte, schwitzend und schreiend auf einen
kleinen Ball einzuschlagen. Oscar hingegen, der das Cricketspielen nicht einmal
besonders schätzte, wurde zum Training ermutigt.
Doch aufzugeben lag Sibylla nicht. Wenn sie
nicht Cricket spielen durfte, versuchte sie, die Aufmerksamkeit ihres Vaters
eben mit etwas anderem auf sich zu ziehen. Auch heute hatte sie für ihn eine
Überraschung dabei.
„Schau, Vater“, sprach sie ihn mit glänzenden
Augen an und griff in einen der Weidenkörbe mit den Picknickutensilien. „Die
habe ich selbst in unserem Gewächshaus gezogen!“
„Tomaten?“, fragte er, und ein Hauch Ungeduld
schwang in seiner Stimme mit. „Was soll ich damit?“
„Essen“, erwiderte sie und biss herzhaft in
eine der roten runden Früchte.
„Ja, bist du denn des Wahnsinns?!“ Mit einem
Satz war Richard neben ihr, riss ihr die angebissene Tomate aus der Hand und
schleuderte sie ins Gebüsch. „Spuck das sofort aus, oder willst du dich
vergiften, du törichtes Frauenzimmer!“
Tränen schossen Sibylla in die Augen, als sie
sich abwandte, um das Tomatenstück in das Taschentuch zu spucken, das Mary ihr
rasch gereicht hatte.
„Sie sind nicht giftig“, erklärte sie
gepresst. „Ein gewisser Colonel Gibbon Johnson hat das bewiesen, indem er sie
öffentlich gegessen hat. Sie sind sogar sehr wohlschmeckend. Du könntest eine
Menge Geld verdienen, wenn du sie verkaufst – zum Beispiel an Städter, die
keine Zeit oder keinen Garten haben, um selbst welche anzubauen.“
„Unsinn!“, fuhr Richard ihr über den Mund.
„Selbst wenn sie nicht giftig sind, werden die Leute immer noch denken, dass
der Verzehr von Tomaten sie umbringt. Aberglaube lässt sich schwer ausrotten.“
„Wenn Oscar mit dieser Idee zu dir gekommen
wäre, wärst du begeistert!“, erwiderte sie wütend.
„Es reicht!“, dröhnte Richard. „Versuche
nicht immer, mehr zu sein, als du bist! Nimm den Platz im Leben ein, der dir
bestimmt ist, dann hast du genug erreicht!“
„Richard!“, ermahnte Mary ihn leise, denn
mehrere Leute schauten zu ihnen hinüber. Rasch signalisierte sie Benjamin, der
wie erstarrt neben dem Kerosinkocher stand, dass er den Tee eingießen sollte.
„Sibylla, Liebes“, begann sie sanft. „Willst
du deinem Vater eine Tasse Tee bringen?“
Sibylla gehorchte mit versteinerter Miene.
Die Stimmung des Sommertages hatte sich merklich abgekühlt. Oscar machte sich
mit seinen Mannschaftskameraden davon, um in einem der vielen Theater von
Haymarket ihren Sieg zu feiern. Marys bedrückte Miene hellte sich erst auf, als
zwei ihrer Freundinnen kamen, um sie eingehend über den jungen Mann in Sibyllas
Begleitung zu befragen. Richard hatte sich die Times aus dem Picknickkorb
geholt und studierte einen Bericht über die Baufortschritte der London und
Blackwall Eisenbahn, die den Westteil des Hafengebietes erschließen sollte.
Sibylla beobachtete Benjamin, der das Etikett
einer Champagnerflasche betrachtete. Vermutlich wollte er sich den Namen
merken, um sich irgendwann bei passender Gelegenheit mit seinen Kenntnissen
hervorzutun. Sie hatte längst bemerkt, wie sehr er sich bemühte, ihr zu
gefallen, aber sie wusste nicht, ob sie es albern oder rührend finden sollte.
Sibylla seufzte leise. Dann nahm sie ihr
mitgebrachtes Buch und schlug es auf. Es war der Reisebericht eines gewissen
James Curtis, der vor einigen Jahren Marokko besucht und sogar am Sultanshof zu
Gast gewesen war.
Die Einladung des Herrschers an die
englischen Kaufleute war ausführlich im Hause Spencer erörtert worden. Richard
versprach sich gute Profite vom Handel mit Marokko und hatte einer seiner
Handelsagenten, einen Mr. Fisher, der zuvor in Algerien für Spencer & Sohn
tätig gewesen war, nach Mogador geschickt. Sibylla fand allein den Gedanken an
ein exotisches Land wie Marokko aufregend. Sie wäre gerne an Mr. Fishers Stelle
gewesen, doch das war natürlich utopisch. Stattdessen war sie zu Lackington
Allen, einem großen Buchkaufhaus am Finsbury Square gefahren. Dort hatte sie
nicht nur den Reisebericht von James Curtis, sondern auch den von James Grey
Jackson erstanden sowie eine neu übersetzte Ausgabe der „Geschichten aus 1001
Nacht“.
Sie war so vertieft in Mr. Curtis Schilderung
des bunten Treibens auf dem Basar von Tanger, dass ihr Kummer über die
Auseinandersetzung mit ihrem Vater dahinter verblasste.
„Würden Sie einen Spaziergang um das
Cricketfeld mit mir in Erwägung ziehen, Miss Spencer? Ihre Mutter hätte
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