Die Loewin von Mogador
sich wünschte, hatten sie in der schicken St.-Georgs-Kapelle am Hanover
Square geheiratet, obwohl Sibylla eine einfache Zeremonie in einer schlichten
Kirche schöner gefunden hätte. Er hatte eine riesige Gästeliste
zusammengestellt, von der sie am liebsten die Hälfte wieder gestrichen hätte.
Trotzdem konnte sie seine Eltern nirgends finden.
„Du hast deine Eltern vergessen“, hatte sie
gesagt, als sie die Aufstellung überflog. Er hatte verlegen herumgedruckst,
dass sie zurückgezogen lebten und sich nichts aus großen Festen machten.
„Schämst du dich für deine Eltern? Willst du
sie gar nicht einladen?“, hatte sie ungläubig gefragt.
Er hatte einen roten Kopf bekommen und nichts
mehr gesagt, und Sibylla hatte sie mit den Worten „Wenn sie anständige Leute
sind, sind sie mir willkommen“ auf die Gästeliste gesetzt.
Dieser Vorfall ging ihr nicht mehr aus dem
Kopf. Er sagte ihr eine Menge über den Charakter ihres künftigen Ehemannes, und
während Benjamin die Speisen aussuchte, Musiker vorspielen ließ und einen
Tanzlehrer engagierte, der ihm Wiener Walzer beibrachte, bat Sibylla ihren
Vater, ihre Mitgift in einer Stiftung anzulegen. Es war eine der wenigen
Gelegenheiten, bei denen sie einer Meinung waren. Eine Stiftung stellte den
einzigen Weg für eine Frau dar, ihr in die Ehe eingebrachtes Vermögen zu
behalten. Sonst ging jeder Penny mit dem Jawort in den Besitz des Mannes über.
Über ein Stiftungsvermögen jedoch konnte Sibylla nicht nur zu Lebzeiten Benjamins,
sondern auch nach seinem Tod allein verfügen.
Die Fahrt vom Stanhope Gate zum Hamilton
Place, wo Sibyllas Eltern lebten, dauerte zehn Minuten. Es schneite in London.
Feuchte Kälte kroch durch das geschlossene Verdeck des Landauers. Sibylla
kuschelte sich unter ihre Felldecke, die Benjamin fürsorglich rund um sie
festgestopft hatte. Für solche Gesten, die unversehens und nicht allzu häufig
erfolgten, mochte sie ihn. Zum Glück hatte der Butler auch für ein Kohlebecken
gesorgt, sonst wäre sie in ihrem seidenen Abendkleid und den dünnen
Satinslippern erfroren.
Sie legte den Kopf gegen die Rückenlehne und
lauschte dem gedämpften Hufschlag der Pferde. Die Park Lane war fast leer.
Niemand verließ bei diesem Wetter freiwillig sein warmes Heim. Zu dem Schnee
hatte sich dichter Nebel gesellt. „Erbsensuppe“ nannten die Londoner die
undurchdringlichen Schwaden, die von der Themse aufstiegen und sich mit dem
Rauch aus den vielen Kaminen zu einem schwefeligen Gestank vermischten.
Der Kutscher hielt vor dem Haus ihrer Eltern,
einem eleganten Gebäude mit weiß verputzten Mauern und einer von Säulen
flankierten schwarz lackierten Eingangstür.
„Ich bin furchtbar neugierig auf den Bericht
von Mr. Moffat“, gestand Sibylla, während Benjamin ihr aus dem Wagen half. „Ich
habe so viel über den Orient gelesen, aber es ist doch noch interessanter,
einen Augenzeugenbericht zu hören.“
Benjamin dachte an die Bücher und
Zeitschriften, die sich auf der Konsole an Sibyllas Seite des Bettes stapelten,
und bemerkte kopfschüttelnd: „Hoffentlich spricht sich nicht herum, dass ich
mit einem echten Blaustrumpf verheiratet bin! Sonst denken die Gentlemen im
Club noch, ich wäre ein Pantoffelheld.“
Gleich nachdem sie das Haus betreten und
Sibyllas Eltern sie willkommen geheißen hatten, raunte Richard Benjamin zu:
„Hopkins, ich muss Sie kurz sprechen!“
Inzwischen war auch Liam Moffat eingetroffen.
Während Mary und Sibylla den schottischen Ehrengast begrüßten, zog Richard
seinen Schwiegersohn in eine Ecke des Speisesaals. „Ich habe schlechte
Nachrichten. Unser Mann in Mogador ist tot. Offensichtlich gab es eine
Fleckfieberepidemie, der er zum Opfer gefallen ist. Es stand in einem Brief von
Mr. Willshire, unserem Konsul in Mogador, den Moffat mitgebracht hat.“ Spencer
zog einen Umschlag aus seinem Frack und reichte ihn Benjamin.
„Das ist alles sehr ungünstig für uns“, fuhr
er fort, während Benjamin das Schreiben überflog. „Wenn ich allein daran denke,
wie viel wir in Geschenke für den Sultan und seinen Hofstaat investiert haben,
damit der Handel reibungslos läuft. Und jetzt das!“
„Wir sollten auf jeden Fall wieder jemanden
hinschicken“, riet Benjamin. „Unsere Umsätze in Marokko sind gut. Es wäre
jammerschade, wenn wir die Geschäfte einstellen müssten.“
Der Butler öffnete die Flügeltüren zum
Speisesaal, und Liam Moffat trat ein, Mary und Sibylla jeweils an einer Seite.
„Warum habt ihr
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