Die Loewin von Mogador
Sie eines beherzigen: Ihr
Europäer habt zwar die Uhr, doch wir im Orient haben die Zeit.“
Kapitel sechs – Mogador
und Marrakesch, September 1836
„Verzeihen Sie meine Offenheit, liebe
Sibylla, aber was Sie da vorhaben, ist blanke Unvernunft!“ Sara Willshire
fädelte mit missbilligend gerunzelter Stirn ein Stück Garn in ihre Nähnadel.
Sibylla faltete die Windel zusammen, die sie
gerade gesäumt hatte. „Das ist es nicht“, widersprach sie, und ihre Stimme
klang einen Hauch herausfordernd. „Wir sind doch nur zwölf Tage fort, und mir
bleiben noch sechs Wochen bis zur Geburt. Im Übrigen fühle ich mich blendend!“
Die beiden jungen Frauen saßen im Innenhof
des Hopkins-Hauses im Schatten eines Olivenbaumes und nähten Babywäsche. Warm
und windstill war es hier, der zarte Duft von Rosen und Mimosen erfüllte die
Luft, und in den Zweigen sangen die Vögel. Sibylla und Sara trafen sich fast
jeden Tag und plauderten über Gott und die Welt, während der Berg Hemdchen,
Höschen, Hauben und Windeln in dem geflochtenen Korb zu ihren Füßen wuchs.
Gerade hatte Sibylla der Frau des Konsuls erzählt, dass sie vorhatte, ihren
Mann in wenigen Tagen nach Marrakesch zu begleiten, denn Sultan Abd Er Rahman
hatte die Kaufmannschaft der Stadt zu einer Audienz eingeladen.
„Seine allergnädigste Majestät will sich
überzeugen, dass es den ihm zum Schutz anbefohlenen Ungläubigen in seinem Land
an nichts mangelt“, hatte Kaid Hash Hash behauptet, der die Gruppe ebenfalls
begleitete.
Sara Willshire konnte über Sibyllas Idee nur
den Kopf schütteln. „Marokko ist nicht England“, warnte sie. „Wir reisen nicht
in einer bequemen Postkutsche über ausgebaute Straßen. Wir sitzen im Sattel und
schlafen nachts auf dem Boden in einem Zelt oder einer Karawanserei, wenn wir
Glück haben! Außerdem ist es im Landesinneren heißer als an der Küste. In
Marrakesch herrschen noch im September mehr als dreißig Grad. Ich habe diese
Reise schon einige Male unternommen, und glauben Sie mir: Es ist kein
Zuckerschlecken, fünf Tage hintereinander von früh bis spät zu reiten! Sollten
bei Ihnen aufgrund der Anstrengung vorzeitig die Wehen einsetzen, gibt es
keinen Arzt und kein Krankenhaus wie in London.“
„Ich bin eine gute Reiterin“, entgegnete
Sibylla stur. „Und ich bin nicht aus Zucker. Außerdem habe ich Nadira bei mir.“
Die schwarze Dienerin kam mit einem Krug
Orangenblütenwasser, Gläsern und einem Teller frischer Feigen aus der Küche.
Sibylla lächelte dankbar. Nadira war in den vier Monaten, die sie jetzt in
Mogador lebten, unverzichtbar geworden. Durch lange Dienstjahre bei englischen
Herren hatte sie ein feines Gespür für die Wünsche der Europäer entwickelt.
Sibylla verbrachte mit Nadira mehr Zeit als mit jedem anderen Menschen in
dieser Stadt. Durch sie lernte sie Alltag und Gebräuche kennen. Während der
letzten Wochen hatte Sibylla sogar mit Nadiras Hilfe begonnen, Arabisch zu
lernen. Sie zeigte auf einen Gegenstand, und die Dienerin nannte ihr den
arabischen Begriff dafür.
„Ist Ihr Gatte einverstanden, dass sie ihn
begleiten?“, unterbrach Sara ihre Gedanken.
Die Frage ärgerte Sibylla. Es war doch allein
ihre Entscheidung, ob und wohin sie reisen wollte! Leichthin antwortete sie:
„Aber ja! Warum auch nicht? Wir Engländer haben doch Sportsgeist.“
Tatsächlich hatte Benjamin die gleichen
Einwände vorgebracht wie Sara. Als er allerdings gemerkt hatte, wie gereizt
Sibylla reagierte, hatte er rasch eingelenkt. Sie sah ihren Ehemann ohnehin
sehr wenig. Er hatte im Hafen oder in der Zollstation zu tun, musste sich mit
den Kapitänen besprechen oder die Waren begutachten und beklagte sich jeden
Tag, dass die Araber unzuverlässige Geschäftspartner wären, denen er persönlich
auf die Finger schauen müsste, damit sie ihn nicht betrogen. Im Gegensatz zu
Sibylla versuchte er nicht, die Eigenarten der Menschen dieses Landes zu
verstehen. Aber Richard lobte ihn in langen Briefen für seinen Einsatz. Zwar war
es Benjamin nicht gelungen, das Monopol für den Lederhandel zu bekommen, aber
der Kaufmann Toledano vermittelte ihm gegen Provision Leder von hervorragender
Qualität aus der marokkanischen Gerberstadt Fès. Außerdem handelte Benjamin mit
Gummi Arabicum, das zur Herstellung von Farben und in der Medizin gebraucht
wurde, und mit Getreide aus den fruchtbaren Hochebenen im Norden rund um die
alte Königsstadt Meknes.
„Gestern kam das geweihte Wasser aus England
für die Taufe“,
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