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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Drosten
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erzählte Sibylla. Konsul Willshire, der sonntags in seinem Haus
als Ersatz für den Gottesdienst auch Bibellesungen abhielt und für das
Seelenheil der Engländer in Mogador zuständig war, sollte das Baby taufen.
    „Briefe von zu Hause waren auch dabei. Mein
Bruder Oscar hat im Sommer die Schule beendet und arbeitet jetzt in der
Reederei mit. Vater hat ihn in die Schreibstube gesetzt. Vorerst ist er nur ein
einfacher Lehrjunge. Meine Stiefmutter schreibt, dass er es hasst, jeden Morgen
so früh aufstehen zu müssen.“ Sie lächelte gedankenverloren. „Ich wollte
unbedingt aus London fort, aber hier merke ich, dass ich meine Familie
vermisse. Sie ist so weit weg. Manchmal sehne ich mich danach, einfach nur ihre
Stimmen zu hören.“
    „Ach, und ich vermisse die vielen
Geschäfte!“, rief Sara aus. „Würden Sie sich nicht auch gern die neuesten
Schnittmuster bei Debenhams ansehen oder durch die Läden in Covent Garden
bummeln?“
    „Lieber würde ich ins Theater gehen“,
antwortete Sibylla. „Es ist doch seltsam, dass es in Marokko gar kein
öffentliches Leben gibt, weder Theater- noch Opernaufführungen, weder Bälle
noch Sportveranstaltungen.“ Sie kramte in einer Schachtel, die auf einem runden
Tisch zwischen ihnen stand, bis sie einen kleinen Knopf gefunden hatte, und
hielt in prüfend an ein winziges weißes Baumwolljäckchen.
    „Das Familienleben hier spielt sich hinter
Häusermauern ab. Mir fiel es auch schwer, mich daran zu gewöhnen“, räumte Sara
ein.
    „Und deshalb muss ich unbedingt ein paar Tage
aus dieser Enge heraus!“, beharrte Sibylla. „Fast den ganzen Tag verbringe ich
in diesem Haus mit seinen winzigen Fenstern oder im Hof, aus dem ich auch nicht
herausschauen kann. Wenn ich ausgehe, stoße ich nach spätestens zehn Minuten
auf die Stadtmauern. Vom Land habe ich überhaupt noch nichts gesehen!“
    „Ich kann Sie ja verstehen, liebe Sibylla“,
seufzte Sara. „Aber unvernünftig ist es trotzdem.“
     
    Die europäischen Kaufleute einschließlich
ihrer Konsuln, die aus England, Spanien, Portugal, Frankreich, den Niederlanden
und Dänemark kamen, hatten sich einer Karawane angeschlossen, die Samuel
Toledano ausgerüstet hatte. Sie bestand aus fünfzig schwer beladenen Kamelen,
fünf Kamelreitern, dem Karwan-Baschi genannten Anführer und mehreren
Lehrlingen, die die Tiere versorgten und den Kamelreitern zur Hand gingen. In
Marrakesch würden sie sich mit anderen Karawanen aus dem Norden des Landes zu
einem mehrere Hundert Tiere umfassenden Zug zusammenschließen, der durch die
Westsahara bis zur legendären Stadt Timbuktu wanderte. Die südwärts ziehenden
Karawanen transportierten Datteln, Öl, Henna und Salz, Baumwollstoffe und
Glasperlen, Metallerzeugnisse, Teppiche und Keramik. Bei ihrer Rückkehr
brachten sie Straußenfedern, Elfenbein, Gold und vor allem Sklaven zurück in
den Norden.
    Die kleine Karawane von Mogador nach
Marrakesch wurde zum Schutz vor Diebesbanden von dreißig Reitern aus der
Kavallerie des Sultans begleitet. Der Statthalter von Mogador ritt ebenfalls
mit, auf einem wunderschönen arabischen Hengst, seinen wertvollsten Jagdfalken
auf dem Arm.
    Die Straße nach Marrakesch – ein staubiger, von
zahllosen Kamel-, Maultier- und Pferdehufen ausgetretener Weg – führte
geradewegs nach Osten. Kurz hinter der Stadt durchritten sie die Arganwälder,
von denen Sara Willshire behauptete, dass es sie nur hier gab. Die urtümlichen
Bäume mit den ausladenden Kronen trugen pflaumenähnliche grüne Früchte, aus
deren Kernen die Einheimischen ein nahrhaftes goldfarbenes Öl gewannen.
Offensichtlich waren sie auch bei Ziegen beliebt, denn zu ihrem Vergnügen
entdeckte Sibylla etliche, die sogar zwischen die Äste kletterten, um an diese
Leckerbissen zu gelangen.
    Auf die Arganwälder folgte eine Ebene, in der
Wacholderbüsche und niedriges Strauchwerk wuchsen. Manchmal sahen sie
verlassene, halb verfallene Lehmhütten und abgeerntete kleine Felder. Sie
durchquerten Bäche, die nach einem langen Sommer fast ausgetrocknet waren und
gerade noch genug Wasser für Mensch und Tier boten. An den Ufern blühte
Oleander, der betörend süß duftete. Nadira machte Sibylla und Sara auf
Heuschrecken und Chamäleons aufmerksam, einmal auch auf die pergamentene Haut,
die eine Schlange abgestreift hatte. Je weiter ostwärts sie kamen, desto
sandiger wurde der Boden, und in der Ferne tauchten die Gebirgszüge des Atlas
aus dem blauen Dunst.
    In den ersten beiden Nächten schlugen

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