Die Loewin von Mogador
lange Sandwolke gehüllt war. Zum Schutz hatte
Sibylla sich wie die Einheimischen einen Schal um den Kopf gewickelt, der nur
einen Sehschlitz für die Augen ließ, doch trotzdem drangen winzige Körner
zwischen ihre Zähne, in ihre Ohren, Augen, Nasenlöcher und Haare. Nadira und
Sara Willshire, die neben ihr ritten, hatten sich ebenfalls verhüllt. Sibylla fragte
sich, wie Benjamin, der weit vorn in der Karawane neben Samuel Toledano ritt,
sich in seiner englischen Reitkleidung hielt. Er lehnte die „muselmanische
Verkleidung“ ab und trug feste Lederstiefel, Reitrock und Zylinder, als befände
er sich mitten im regnerischen englischen Sommer und nicht in der Hitze
Südmarokkos.
„Wenn mein Kopf zerplatzt, dann ist dieser
elende Scirocco schuld!“, klagte Sara.
„Und mir ist übel“, stöhnte Sibylla. „Nadira,
was heißt mir ist schlecht auf Arabisch?“ Ihre Dienerin, die sich an der
borstigen kurzen Mähne ihres grauen Esels festklammerte, gab einsilbig zur
Antwort: „Am bjejani batne, Herrin.“
„Vielleicht sollte ich es wie Sie machen und
mich wie eine Araberin kleiden. Es sieht sehr bequem aus“, stellte Sara mit
neidischem Blick auf Sibylla fest, die einen locker geschnittenen Seidenkaftan
und weite seidene Hosen trug, mit denen sie gut im Herrensitz reiten konnte.
Sie war noch nie zuvor wie ein Mann geritten, fand aber, dass sie ihr Maultier
so besser dirigieren konnte. Die Kleidung war ein Geschenk von Rusa und Lalla
Jasira, nachdem die „englischen Babuschen“ aus London eingetroffen waren. Die
Damen waren von den Schuhen begeistert gewesen, und Lalla Jasira hatte laut
darüber nachgedacht, bald die schönen Seidenstrümpfe zu bestellen, die sie an
den Beinen der Engliziya gesehen hatte.
„Arabische Kleidung ist in der Tat bequem.
Und ich habe mich noch nicht entschlossen, ob ich nach der Geburt je wieder ein
Korsett anlegen werde“, erwiderte Sibylla und musterte Saras stramm über dem
Mieder sitzendes Kleid mitleidig. Unter den engen langen Ärmeln zeichneten sich
dunkle Schweißflecken ab. Der Rock war durch mehrere Unterröcke sicher so warm
wie eine Wolldecke. Außerdem saßen Sara und Nadira seitwärts auf ihren
Reittieren, genau wie der Jude Toledano.
Benjamin ritt neben ihm und Konsul Willshire.
Seit dem gestrigen Abend fiel es ihm schwer, seiner schwangeren Ehefrau in die
Augen zu sehen. Aus Angst, dass sie ahnte, welche Wirkung die
Chiadma-Tänzerinnen auf ihn hatten, hielt er so viel Abstand zu ihr wie
möglich. Außerdem konnte er sich mit Samuel Toledano und Konsul Willshire
ausgezeichnet über Geschäfte unterhalten – ein Thema, das ihm weit mehr lag als
Frauengespräche über Babys, Kleider und Kindererziehung.
Inzwischen wusste er, dass Toledano der
mächtigste unter den jüdischen Kaufleuten Mogadors war. Wenn man den älteren
Mann in dem verblichenen schwarzen Kaftan auf seinem Esel hocken sah – der
Sultan gestatte den Juden nicht, Maultiere oder gar Pferde zu reiten –, war das
schwer zu glauben. Aber Benjamin hatte ihn in seinem Haus in der Mellah
Mogadors besucht, wo Toledano hinter unauffälligen Fassaden mit seiner Ehefrau
und mehreren Kindern in europäisch anmutendem Luxus lebte.
Als am Nachmittag des nächsten Tages die
Mauern von Marrakesch am Horizont auftauchten, war Sibylla so erleichtert, dass
sie fast geweint hätte. Den ganzen Tag schon verspürte sie ein Ziehen im Leib,
nicht stark, aber doch so beharrlich, dass sie begann, sich Sorgen zu machen.
Der Boden war uneben, jeder Stein versetzte ihr einen unangenehmen Stoß. Sie
biss die Zähne zusammen und versuchte, auf gar keinen Fall daran zu denken, wie
es wäre, an einer Karawanenstraße ohne jede Hilfe niederzukommen.
Sie richtete den Blick nach vorn auf das
eckige Minarett der Koutubia-Moschee, das ein Meer von Häusern überragte. In
den vergoldeten Kugeln auf der Turmspitze glitzerte das Sonnenlicht. Dahinter
erstreckten sich die blau-violetten und weißen Gebirgszüge des Hohen Atlas.
„Ist das wirklich Schnee dort oben? So kurz
vor der Wüste? Was für ein fantastisches Land!“, rief sie aus.
Die Karawane durchquerte die Al-Haouz-Ebene,
eine fruchtbare Gegend mit Oliven- und Granatapfelhainen, die die Araber die
Gärten des Sultans nannten. Sibylla sah grüne Wiesen, auf denen Ziegen, Schafe
und Rinder grasten. Am Wegesrand standen Kornspeicher, die aus dem typischen
roten Lehm der Gegend errichtet waren, in den Bäumen nisteten
Sperlingskolonien. Tief im Boden hörte sie
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