Die Loewin von Mogador
klingen.
„Sibylla“, sagte André leise, und sie
errötete, denn es war das erste Mal, das er sie beim Vornamen nannte. „Ich bin
mit dieser Frau nicht mehr verheiratet. Sie ist vor einigen Monaten zu ihrer
ältesten Tochter gezogen, die einen Mann aus dem Rifgebirge geheiratet hat. Sie
will ihr helfen, einen Hausstand aufzubauen. Deshalb hat sie mich gebeten, der
Auflösung unserer Verbindung zuzustimmen.“
„Sie kann sich scheiden lassen? Einfach so?
Weil sie es will?“ Für Sibylla klang das höchst fragwürdig.
André nickte. „Idri war Witwe, als ich ihr
auf einem Stammestreffen begegnet bin. Als Witwe hat sie das Recht, sich alle
weiteren Gefährten selbst zu wählen, ohne die Zustimmung irgendeines Mannes,
und genauso hat sie das Recht, sich auch wieder von ihnen zu trennen.“
„Wie ungewöhnlich!“, wunderte Sibylla sich.
Sie schaute angestrengt auf das Blütenmuster ihres Kaftans und versuchte, jenen
Gedanken zu unterdrücken, der sich in ihrem Kopf festgesetzt hatte: Könnte ich
mich doch auch so einfach und unkompliziert scheiden lassen! Doch sie wusste,
dass das nicht ging. Für ein wenig mehr Freiheit hatte sie ihr Leben an
Benjamin verpfändet, und daran würde sich nichts ändern, bis einer von ihnen
starb. Mit aller Kraft unterdrückte sie ein tiefes Seufzen.
André fasste mit den Fingerspitzen behutsam
unter ihr Kinn, so dass sie ihn ansehen musste, obwohl ihre Augen in Tränen
schwammen und ihr das schrecklich unangenehm war.
„Sibylla“, begann er, und ihr Herz machte
einen Sprung.
„Ja, André?“, flüsterte sie.
„Sibylla, wenn Sie nur …“
„Mummy!! John hat ihn losgelassen!“, ertönte
die Stimme von Tom. „Und jetzt ist er weg! Der Drache ist weg!!“
Sibylla und André fuhren wie ertappte Diebe
auseinander.
Die Kindergruppe stand nicht weit von ihnen
am Strand und blickte zu dem Drachen empor. Rot und gelb tanzte er vor dem Blau
des Himmels. Der kleine Sabri bin Abdul stand neben Tom. Sie waren fast gleich
groß, hatten beide eine Hand über die Augen gelegt und schauten dem immer
kleiner werdenden Spielzeug hinterher. „Jetzt fliegt er nach Mekka wie die
Störche“, stellte Sabri fest, als der Drache nur noch einen winzigen Punkt
ausmachte, der auf das endlose Meer hinaustrieb. Er lächelte Tom zu, dann
rannte er mit den anderen Araberjungen davon. John und Tom liefen zu ihrer
Mutter.
„Mummy?“, fragte Tom und schmiegte sich an
sie. „Fliegt der Drache wirklich nach Mekka wie die Störche?“
„Wer hat dir das denn erzählt?“, kam es
erstaunt von Sibylla.
„Sabri. Er ist nämlich mein Freund“,
erwiderte Tom ernst.
Sibylla lachte und nahm auf jeder Seite einen
ihrer Jungen an die Hand. „Nun, dann wird es wohl stimmen. Und wir gehen jetzt
auch nach Hause.“
André, der inzwischen den Sand von seiner Jacke geschüttelt und sie wieder
angezogen hatte, sagte rasch: „Wenn Sie erlauben, werde ich Sie begleiten,
Madame Hopkins.“
Sie nickte stumm, und über die Köpfe der
Kinder hinweg tauschten sie einen langen Blick.
Kapitel
elf
„Und diese Süßigkeit reichen die Engliz, um
die Geburt ihres allerhöchsten Propheten zu feiern, das Fest, das Sie Weihnachten
nennen? Es ist schmackhaft, gewiss, aber müsste es nicht süßer sein, zarter?
Müsste es nicht mehr dem göttlichen Anlass entsprechen?“ Lalla Jasiras Miene
strafte ihr höfliches Lob Lügen.
Sibylla lächelte. „Ich verstehe sehr gut, was
Sie meinen. Als Kind liebte ich Ingwerkekse. Unsere Köchin hat sie jedes Jahr
zur Weihnachtszeit gebacken. Aber ich gebe zu, dass drei Jahre marokkanische
Köstlichkeiten meinen Gaumen verfeinert haben.“
„Nicht doch!“, lenkte Rusa ein, die ebenfalls
probiert hatte. „Dieses Gebäck ist sehr interessant. Schmecke ich nicht Nelken
und Honig? Und ja, da ist noch ein Hauch Vanille.“
„Sie sind zu gütig, Rusa“, gab Sibylla zurück
und legte ihren angebissenen Keks zurück auf ihren Teller. „Aber ich wollte
Ihnen nur ein kleines Geschenk machen, das man in meiner Heimat mit dem
Weihnachtsfest verbindet.“
„Wären Sie jetzt gern dort und würden mit
Ihrer Familie das Fest der Geburt des Propheten feiern, den Sie Christus
nennen?“ Rusa musterte ihren Gast mitfühlend. Mehr als drei Jahre kannte sie
die Engliziya nun – eine lange Zeit, in der die Christin nicht nur eine
verlässliche Geschäftspartnerin geworden war. Sie mochte die Frau mit dem
Löwenhaar fast wie eine eigene Tochter.
Sibylla blickte zu den vielen Kindern
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