Die Löwin
die letzten brauchbaren Knochenstücke, die sie mühsam auf dem Grund der Grube ertastet hatte, und stieg mit dem festen Willen nach oben, dem Kaufmann zu entkommen. Ihre Hände waren klamm und bluteten, ihre Schuhe musste sie abstreifen, weil sie durchweicht und so schlüpfrig waren, dass sie keinen Halt mehr mit ihnen fand. Sie krallte sich mit nackten Zehen auf ihren bisherigen Stufen fest und hämmerte weitere Sprossen in die Wand. Inzwischen hatte sich das Gewitter verzogen, und sie fürchtete, man könnte in der Burg auf den Lärm aufmerksam werden, den die Schläge mit dem Stein verursachten.
Doch anscheinend hatte das Krachen des Donners die Ohren der Leute betäubt, denn Caterina erreichte unbemerkt den Rand des Loches und schob sich mit dem Oberkörper ins Freie. Etliche Augenblicke lang blieb sie hilflos liegen und rang keuchend nach Luft. Dann zog sie sich mit einem letzten Ruck ganz über den Rand und kroch ein Stück weg, weil sie fürchtete, ihre vor Schwäche zitternden Beine würden sie nicht tragen, sondern in die Grube zurückstürzen lassen. Als sie sich auf die Füße kämpfte, flog ihr Blick zum Hauptbau der Burg, der jetzt, da der Himmel nur noch durch fernes Wetterleuchten erhellt wurde, wie ein schwarzer Fels wirkte. Nirgendwo war der Widerschein von Licht zu sehen. Wahrscheinlich hatten sich Trefflich und seine Bediensteten in ihre Kammern zurückgezogen und waren in der nun fast schmerzhaft wirkenden Stille eingeschlafen.
Caterina vermochte nicht abzuschätzen, wie spät es war, denn die Wolken bedeckten lückenlos den Himmel. Es konnte genauso gut früher Abend wie Mitternacht sein. Kurz dachte sie an ihre Leute, doch um sie zu befreien, hätte sie in den Palas eindringen und ihn durchsuchen müssen. Dort drinnen aber würde sie nicht weit kommen, sondern ertappt und wieder eingefangen werden. Daher wandte sie sich dem Stallgebäude zu, um ihre Stute zu holen, blieb aber nach einigen Schritten stehen. Trefflichs Pferdeknechte würden die Unruhe bemerken, die dabei entstehen musste. Selbst wenn es keiner von ihnen wagen würde, sie mit eigener Hand aufzuhalten, so würden sie ihr den Weg versperren und nach ihrem Herrn rufen. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als zu versuchen, zu Fuß zu entkommen.
Caterina dachte an die zwei Meilen, die Rechlingen von Eldenberg trennte, und bedachte Trefflich als Dank für das, was nun vor ihr lag, mit einem Fluch, den ihre Mutter mehrfach benutzt hatte und für dessen Nachplappern sie schwer bestraft worden war. Inzwischen hatte sie begriffen, dass er männliche Geschlechtsteile bezeichnete, die verfaulen und abfallen sollten.
Caterina war sich bewusst, wie viel Glück sie hatte, denn sie erreichte das Tor der Burg, ohne dass die Hunde anschlugen, die sich wegen des abgezogenen Gewitters wohl in die trockensten Ecken ihrer Zwinger zurückgezogen hatten und mit über die Schnauzen geschlagenen Schwänzen schliefen. Der Wächter, der sich in seiner Stube über ein winziges Holzkohlefeuer beugte, drehte ihr oder vielmehr der feuchten Zugluft den Rücken zu und schwang einen Weinschlauch in der Hand. Daher sah er nicht, dass sie die kleine Pforte im Tor öffnete und ins Freie schlüpfte. Der Mann würde am nächsten Tag gewiss Schläge bekommen, doch in ihrem Hass auf alles, was mit Trefflich zu tun hatte, gönnte Caterina ihm jeden einzelnen Hieb.
Der Weg hinab ins Tal war so matschig, dass sie immer wieder ausrutschte, was noch das geringste Übel war. Unangenehmer wäre es gewesen, auf trockenem, steinigem Boden gehen zu müssen. Sie war nun einmal keine Bauernmagd mit daumendicken Hornsohlen an den Füßen, und sie bedauerte, ihre Schuhe in der Grube gedankenlos abgestreift zu haben, denn nun wäre ihr selbst das glitschig gewordene Leder willkommen gewesen. Ein Paar wunde Füße waren jedoch kein zu hoher Preis dafür, Trefflich und dessen Plänen entkommen zu sein. Im Tal warf sie einen letzten, hasserfüllten Blick auf Burg Rechlingen und schritt dann so schnell aus, wie sie es vermochte, nicht aus Angst vor Verfolgern, sondern um in ihrem nassen Kleid nicht zu erfrieren.
4.
Anders als der Wächter von Rechlingen war der Türmer auf Eldenberg auf der Hut und bemerkte die Gestalt, die sich im Licht des immer wieder hinter den Wolken auftauchenden Vollmonds dem Tor näherte. Sein Ruf weckte einige Knechte, und er ließ seine Laterne an einem Seil in die Tiefe hinab, um erkennen zu können, wer zu einer so unchristlichen Zeit Einlass begehrte.
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