Die Loge
Luft wie ein Tenor, der den Höhepunkt einer Arie schmettern will, und wandte sich Gabriel zu.
»Ich weiß noch, wie du als Junge nach Venedig gekommen bist. Das war vierundsiebzig oder fünfundsiebzig, nicht wahr?« Tiepolos Blick war auf Gabriel gerichtet, aber vor seinem inneren Auge stand das Venedig vor einem Vierteljahrhundert und eine kleine Werkstatt voller eifriger junger Gesichter. »Ich erinnere mich an deine Lehrzeit bei Umberto Conti. Du warst schon damals begabt. Du warst besser als alle anderen. Du hattest das Potential, ein ganz Großer zu werden. Umberto hat es gewußt. Ich hab es gewußt.« Tiepolo fuhr sich mit einer Pranke durch seinen dichten Vollbart. »Hat Umberto gewußt, wer du in Wirklichkeit bist? Hat er gewußt, daß du ein israelischer Agent bist?«
»Umberto hat nichts davon gewußt.«
»Du hast Umberto Conti getäuscht? Du solltest dich schämen! Er hat an Mario Delvecchio geglaubt.« Tiepolo machte eine Pause, beherrschte seine Empörung und sprach mit gedämpfter Stimme weiter. »Er glaubte, Mario Delvecchio werde einer der größten Restauratoren aller Zeiten werden.«
»Ich wollte Umberto immer die Wahrheit sagen, aber das konnte ich nicht. Ich habe Feinde, Francesco. Männer, die meine Familie zerstört haben. Männer, die mich heute wegen Dingen töten würden, die dreißig Jahre zurückliegen. Falls du glaubst, Italiener hätten ein langes Gedächtnis, solltest du einige Zeit im Nahen Osten leben. Wir sind die Erfinder der Vendetta, nicht die Sizilianer.«
»Kain erschlug Abel und wurde ins Land Nod östlich von Eden vertrieben. Und dich hat es hierher, auf unsere sumpfige Insel in der Lagune, verschlagen, wo du Gemälde restaurierst.«
Das war ein Friedensangebot. Gabriel nahm es mit einem versöhnlichem Lächeln an. »Ist dir klar, daß ich nach professionellen Maßstäben eine Todsünde verübt habe? Ich habe mich dir anvertraut, weil ich fürchte, daß dein Freund in Lebensgefahr schwebt.«
»Glaubst du wirklich, sie haben vor, ihn zu ermorden?«
»Sie haben schon viele Leute liquidiert. Sie haben meinen Freund ermordet.«
Tiepolo sah sich auf dem leeren campo um. »Ich kannte auch Johannes Paul I. – aus der Zeit, als er noch Albino Luciani hieß. Er wollte im Vatikan aufräumen. Den Besitz der Kirche verkaufen, das Geld unter den Armen verteilen. Die Kirche revolutionieren. Er ist nach nur vierunddreißig Tagen auf dem Heiligen Stuhl gestorben. An einem Herzschlag, wie der Vatikan gemeldet hat.« Tiepolo schüttelte den Kopf. »Mit seinem Herz war alles in Ordnung. Er hatte das Herz eines Löwen. Auch den Mut eines Löwen. Der von ihm geplante Umbau der Kirche hätte viele erzürnt. Und deshalb …«
Er zuckte mit den breiten Schultern, dann holte er sein Handy heraus, klappte es auf und tippte rasch eine Kurzwahlnummer ein. Er hielt das Handy ans Ohr und wartete. Als sich endlich jemand meldete, nannte er seinen Namen und verlangte einen Monsignore Luigi Donati. Dann bedeckte er das Mikrofon und flüsterte Gabriel zu: »Der Privatsekretär des Papsts. Er war schon in Venedig sein engster Mitarbeiter. Sehr diskret. Unbedingt loyal.«
Offenbar meldete sich als nächster Donati, denn in den folgenden fünf Minuten betrieb Tiepolo angeregt Konversation, die er mit zahlreichen Anspielungen auf Rom und die Kurie würzte. Gabriel bemerkte, daß Tiepolo dank seiner Freundschaft mit dem Papst anscheinend gut über kirchliche Interna informiert war. Als er das Gespräch schließlich auf den eigentlichen Grund seines Anrufs brachte, tat er das so subtil und elegant, daß sein Wunsch unschuldig und dringlich zugleich wirkte. Intrigen in venezianischen Künstlerkreisen hatten Tiepolo viel Nützliches gelehrt. Er war ein Mann, der zwei Gespräche gleichzeitig führen konnte.
Schließlich beendete er das Telefonat und steckte das Handy wieder ein.
»Also?« fragte Gabriel.
»Monsignore Donati redet mit dem Heiligen Vater.«
Luigi Donati starrte das Telefon lange an, während er überlegte, wie er in diesem Fall verfahren sollte. Tiepolos Worte klangen ihm noch im Ohr: Ich muß den Heiligen Vater sprechen. Ich muß ihn unbedingt vor Freitag sprechen. So sprach Tiepolo sonst nie. Seine Beziehung zum Heiligen Vater war absolut loyal – Pasta und Rotwein und humorvolle Geschichten, die den Papst an die schöne Zeit in Venedig erinnerten, bevor er zum Gefangenen des Vatikanpalasts geworden war. Und weshalb vor Freitag? Was spielte der Freitag für eine Rolle? Freitag war
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